Die Monster von Templeton
Buch, hochtrabend und streng zugleich. Mich erfasste eine Welle der Zuneigung für diesen armen kleinen Kerl mit seinen eingewachsenen Leidenschaften, an denen er sich so lange zu schaffen machte, bis sie schmerzten.
Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass der Inhalt des Päckchens nie gelesen worden war und dass meine Mutter gegen diese Versuchung angekämpft hatte, seit Vis Eltern vor fast dreißig Jahren das Zeitliche gesegnet hatten.
«Vi?», fragte ich. «Du hast das nie aufgemacht? Trotz all der Liebe zu deiner Familie? Nie?»
Sie blickte stirnrunzelnd zu Boden. «Nein», erwiderte sie. «Ich kannte meinen Vater, Sunshine. Ich konnte es einfach nicht tun. Außerdem», sagte sie, «weiß ich alles über Pandora und ihre Büchse.»
«Hm», machte ich. «Aber in dem Mythos aus der Bibel ist es doch Eva, die das Böse in die Welt bringt.»
Sie gab mir einen spielerischen kleinen Klaps auf die Wange. «Sei vorsichtig mit dem, was du einen Mythos nennt. Und ich weiß nicht, aber ich glaube, wir brauchen noch ein paar mehr dreiste Frauen auf der Welt. Was mich», fügte sie hinzu, «auf mein nächstes Thema bringt.» «Und das wäre?»
«Clarissa», antwortete sie.
«O Gott», erwiderte ich.
«Bitte keine Gotteslästerung», sagte sie. «Keine Sorge, ich ruf sie an.» Ich schaute zu, wie meine Mutter nach dem alten Telefon griff und die Wählscheibe drehte. Ohne Begrüßung sagte sie in den Hörer: «Na, wenn das nicht Clarissa ist. Ich hab mit dir ein ganz schönes Hühnchen zu rupfen, meine Liebe, also hörst du mir jetzt besser mal gut zu. Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du gerade dabei bist, dich zur großen Idiotin zu machen, die ihre Gesundheit irgendwelchen bekloppten Alternativheilern überlässt und von westlicher Medizin nichts wissen will. Dazu muss ich dir eines sagen: Da ich wirklich möchte, dass du noch eine ganze Zeit lang unter uns Lebenden weilst, glaube ich nicht, dass du das tun solltest.»
Sie hörte einen Moment lang zu, grinste dann und sagte: «Wag es bloß nicht, bei mir die Toughe zu spielen. Das war nämlich mal ich, und deine Version ist verdammt armselig. Und jetzt spitz mal die Lauscher.» Ich hörte zu, wie meine Mutter Clarissa ihren Standpunkt klarmachte, wie sie sich ihre Argumente anhörte und sie dann widerlegte. Ich schaute Vi an, während der Sonnenschein langsam über den Boden wanderte, ihre dicken Beine hochkroch, sich an ihrem Rumpf emporrankte und schließlich in ihr Gesicht schien, bis es golden schimmerte. Es schien, als würde sie wachsen, so wie gute Menschen oft wachsen, wenn sie etwas Großartiges leisten. Als sich Vi umwandte und die Finger zum Siegeszeichen hob, interpretierte ich die Geste so, dass Clarissa damit einverstanden war, mich in zwei Wochen kommen zu lassen, wenn es ihr nicht besser ging. Ich verließ das Zimmer mit dem Umschlag in der Hand, während Vi murmelnd weitersprach, und stand einen Moment lang draußen im Flur, während sich ein großes, dunkles Gefühl der Erleichterung meiner bemächtigte. Ich hatte Zeit. In diesem Augenblick hatte ich Vis Gesicht vor Augen, wie es an dem Tag ausgesehen hatte, als ich zwölf war und Philip Tzara mich Bastard genannt hatte. Wir waren in der Sporthalle gewesen, nach dem Schwimmunterricht, und da es fast Sommer war, legte der Sonnenuntergangeine tiefen, goldenen Schimmer über das Maisfeld rund um die Halle. Und daran erinnere ich mich: wie Philip und ich einen dieser typischen giftigen Wortwechsel hatten, die damals die Funktion eines Flirts erfüllten, ich denke an unser nasses Haar zurück, an die länger werdenden Schatten der Maisstängel, an die Aufregung in meinem Bauch, als ich ihn einen Idioten nannte, wie er grinste und sagte, Scheißegal, du Bastard, und dann diese gewaltige schwarze Blase, die in mir aufstieg. Ich war größer als alle Jungs in meiner Klasse und hatte ihn schnell niedergestreckt. Da lag er verblüfft vor mir auf dem Boden, in der plötzlichen Stille der anderen Kinder rings um uns. Ich hatte ihm einen Zahn ausgeschlagen und mir selber dabei eine Platzwunde zugezogen. Es war nicht eindeutig festzustellen, wer mit wessen Blut verschmiert war.
Ehe meine Mutter an jenem Abend in das Büro des Managers der Sporthalle marschierte, hatte Philips Mutter bereits eine Stunde lang damit gedroht, gerichtlich gegen ihn vorzugehen, und Philip saß auf dem Stuhl gegenüber von mir und weinte leise vor sich hin. Am liebsten hätte ich ihn getreten, weil er so ein
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