Die Monster von Templeton
wir in seinem Arbeitszimmer zusammensaßen, sah er Mudge draußen auf dem See, beim Fischen, legte auf seine unverwechselbare Art die Stirn in Falten und sagte: «Charlie, nimm dich vor diesem Mann in Acht. Man kann einem Menschen einfach nicht trauen, der nicht altert.» Damals habe ich gelacht; heute bin ich seiner Meinung.
Warum ich Ihnen dies schreibe? Vielleicht weil allein Sie wissen, wie schrecklich ich meinen Vater in diesen vergangenen elf Jahren vermisst habe. Kein anderer Mann könnte mein Herz so erfüllen, wie er es tat, wissen Sie. Ich bin entschlossen, als Jungfrau zu sterben. Nein, Cinnamon, Sie müssen keineswegs alles daransetzen, mir einen Ehemann zu finden.
Über den Brandstifter vermag ich Ihnen nichts zu schreiben, weil ich
nichts darüber weiß. Wir müssen denken wie gute Christenmenschen und uns sagen, dass es sich um jemanden handelt, der in Schwierigkeiten steckt und der der Hilfe des Herrn bedarf. Nach Temple Manor kann ich nicht ziehen, weil ich es nicht mag – es ist kalt, und es spukt dort; mein Vater liebte Franklin House, und ich muss an dem Ort bleiben, den mein Vater geliebt hat.
Zudem tut es mir sehr leid, dass ich mich außerstande sehe, die Hunderte von Seiten zu schreiben, um die Sie mich heute gebeten haben. Gleich muss ich aufbrechen; die Clarkes haben mich übers Wochenende nach Hyde Hall eingeladen, wo vermutlich weitere Spenden für Dr. Spotter aufgetrieben werden sollen. Ich glaube, die Pomeroy-Mädchen sowie Solomon Falconer sind ebenfalls mit von der Partie. Auch der Franzose, den Sie erwähnten, wird wohl anwesend sein. Ich wünschte sehr, Sie würden nicht so über ihn spotten. Eigentlich sieht er gar nicht aus wie ein Geier, und es heißt, er gehöre einer vornehmen Familie an, die unter Napoleon alles verloren hat. Er ist der Einzige in der Stadt, mit dem ich mein vernachlässigtes Französisch auffrischen kann.
Doch nun seufzen Sie nicht auf vor Neid auf mein Wochenende; ich bin mir sicher, es wird öde, meine Liebe; außerdem kennen Sie meine schreckliche Schüchternheit und wie sehr ich derlei Anlässe verabscheue. Hätte ich doch nur Ihre Lebenslust und Schönheit! Doch ach, nicht immer ist das, was wir an anderen lieben, auch uns selbst gemäß. Ich werde mich durch das Wochenende kämpfen und wünschen, Sie wären an meiner Stelle.
Ich hoffe, Sie fühlen sich ruhiger und sind leichteren Herzens, wenn dieser Brief Sie erreicht, meine Liebe.
Ihre getreue Freundin
Charlotte Temple
***
Averell Cottage, Templeton
28. November 1861
Meine Liebe,
ich kann es kaum erwarten, alles über Ihr Wochenende auf Hyde Hall zu erfahren! Es ist bereits Mittwoch, und Sie haben noch nicht geschrieben. Eigentlich dachte ich, Sie wüssten, wie schwer die Einsamkeit für mich ist. Schreiben Sie – ich flehe Sie an.
Ihre treueste Freundin
Cinnamon Averell Graves
***
Aus der Feder von Charlotte Temple, Franklin House, Blackbird Bay, Templeton
Zweiter Dezember 1861
Liebste Cinnamon,
ich habe Ihnen deshalb nicht geschrieben, weil ich die ganze Zeit darüber nachdenken musste, was auf Hyde Hall geschehen ist. In meinem Kopf herrscht ein großes Wirrwarr; ich dachte, wenn ich mir die Zeit nähme, könnte ich zu mehr Klarheit kommen, doch ich bin immer noch so verwirrt wie am Sonntagmorgen, als ich Hyde Hall so überstürzt verlassen habe.
Nun habe ich ganz vergessen, dass Sie Hyde Hall ja gar nicht kennen. Es ist ein geschmackvolles Herrenhaus, ein Steingebäude auf einer natürlichen Erhebung an der nördlichen Seite des Sees, im englischen Stil erbaut. Im Frühjahr und Sommer sind die Gärten üppig und wohl gepflegt, während die Anlagen nun, im Winter, einen eher trostlosen Anblick bieten. Die Außengebäude sind schlicht und hübsch. Dennoch liegt eine seltsame Aura über dem Anwesen, die
fast an Verlassenheit gemahnt, obwohl alles recht neu und frisch ist.
Dann sind da die Bewohner, Susanna und George Clarke: sie eine stets gut gelaunte, wenngleich etwas heimtückische Schönheit; und er bedächtig, farblos und bis über beide Ohren in seine Gemahlin verliebt. Darf ich hier erwähnen, dass sie die Ungezogenheit besaß, zwar ihren verarmten «Freund» Nat Pomeroy übers Wochenende einzuladen, dessen Schwestern jedoch nicht? Und doch, sie hat es wirklich getan. Und genau dieses Unbehagen, das sich in unserer Brust breitmachte, ist auch wichtig für das Verständnis dessen, was später passierte. Um die Reihe der weiblichen Gäste komplett zu machen, waren da noch
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