Die Monster von Templeton
weiß zwar, dass man seiner Tochter nicht einfach eine ganze Stadt schenken kann, aber deine Familie hat so viel Geschichte hier, dass es einfach nicht geht, dass du
nicht mehr
zurückkommst. Du musst. Du bist eine Temple im besten Sinne des Wortes. Und du hast immer gewusst, dass ich mir wünsche, du würdest irgendwann wieder hierher zurückziehen. Ob das dann ist, wenn du mit siebzig in Ruhestand gehst, oder zu einem anderen Zeitpunkt, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass diese Stadt eine Temple braucht, die hier lebt. Du kannst Templeton nicht hassen. Was sollen wir also machen?»
Eine ganze Weile saßen wir so da, in der ruhigen Morgenluft. Ich spürte den Pulsschlag meiner Mutter in ihrer Hand, der kräftig und warm war. «Sag du mir, wer mein Vater ist», sagte ich. «Dann könnte ich nach San Francisco fahren und versuchen, dort alles zu regeln. Zur Not könnte ich sogar Clarissas Tür aufbrechen, wenn sie sie verrammelt. Mein Lager auf ihrem Hausflur aufschlagen. Wenn du mir nur sagen würdest, wer er ist.»
«Das könnte ich», sagte sie. «Willst du das denn?»
«Nein», sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
Meine Mutter schien mit dieser Antwort gerechnet zu haben, und ich spürte, wie sie neben mir nickte. «Nein», wiederholte sie. «Es geht nicht, dass du dir den Namen einfach so sagen lässt. Ich denke, du musst ihn selber rausfinden. Sonst würde ein kleiner Teil von dir mir nie glauben.»
«Außerdem», sagte ich. «Lenkt es mich ab von anderen … Sachen.»
«Na gut», meinte Vi. «Ich werde mit Clarissa reden, mal sehen, ob ich sie irgendwie umstimmen kann. Und jetzt sag mir», fügte sie hinzu, «wie weit bist du denn mit deinen Nachforschungen?»
Ich seufzte und ließ mich in meine Kissen zurücksinken. «Ich habe gerade damit angefangen, mich mit jemandem auf der Hetty-Seite zubeschäftigen, einer Frau mit dem Namen Cinnamon Averell Stokes Starkweather Sturgis Graves Peck.»
Meine Mutter pfiff durch die Zähne. «Na, das ist aber ein Name», sagte sie.
«Die hat’s ziemlich krachen lassen», erwiderte ich. «Fünf Ehemänner. Hat sie offenbar alle überlebt. Und ich schaue mir auch die legitime Seite von Charlotte Franklin Temple an. Das ist Jacob Franklin Temples Tochter. War selber Schriftstellerin, habe ich herausgefunden. Künstlername Silas Merrill. Aber irgendwie stecke ich jetzt fest. In den Archiven gibt es keinerlei Informationen über obskure viktorianische Ladys. Wer wusste etwas?»
«Cinnamon», grübelte meine Mutter. «Charlotte.»
«Ja», erwiderte ich. «Ich bin mir sicher, wenn du dir die Namen noch ein paarmal vorsagst, werden die beiden wie durch Wunder hier erscheinen und uns alle ihre Geheimnisse verraten.»
«Charlotte und Cinnamon», sagte meine Mutter. «Kommt mir irgendwie bekannt vor.»
«Vi, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen deiner kleinen Flashbacks, okay? Ich bin mir sicher, das waren nur irgendwelche Folksängerinnen aus deiner Blütezeit oder so was. Zerbrich dir nicht den Kopf.»
Doch jetzt schaute meine Mutter mir ins Gesicht und blinzelte schnell. «Meine Güte», sagte sie. «Warte hier.» Mit diesen Worten erhob sie sich vom Bett und lief rasch durch das Haus davon, den langen Flur entlang, die Treppe hinunter, über den wackeligen Dielenboden im Eingangsbereich bis hinüber in den viktorianischen Flügel des Hauses. Ich hörte, wie sie den kleinen Raum betrat, in dem sie ihre ganzen Bücher und Unterlagen aufbewahrte, und musste lachen, als sie die Treppe wieder hochkam, mit ihren großen, schweren Schritten, so flink wie ein Riese aus dem Märchen, der die Fährte eines Engländers aufgenommen hat.
Als sie in mein Zimmer zurückkam, war ihr Gesicht mit einer zartenRöte überzogen und wirkte fast hübsch. Sie wedelte mit einem braunen Umschlag, der so alt war, dass er beim Schwenken jede Menge kleiner Partikelchen auf den Boden regnen ließ. «Ta-da», rief sie triumphierend. «Ich bin also nicht wahnsinnig.» Sie legte den Umschlag auf meinen Schoß und schaute mich an. «Das ist etwas, das mir mein Dad hinterlassen hat, als er starb. Ich hab ihn nie aufgemacht.»
Ich nahm den Umschlag in die Hand und las in der eleganten, spinnenhaften Handschrift meines Großvaters:
14. September 1966. Briefwechsel zwischen Cinnamon Averell Peck und Charlotte Franklin Temple. Bitte nur öffnen, wenn dringende Umstände es erfordern. Inhalt ist verstörend und schmerzlich.
Es war die Stimme meines Großvaters aus seinem kleinen
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