Die Moralisten
kann ich für Sie tun, Miß Flood?« fragte er.
Die junge Frau antwortete ihm nicht sofort. Sie nahm eine Zigarette heraus und wartete darauf, daß er ihr Feuer gab. Er tat es und war jetzt seiner Analyse nur noch sicherer. Nur Frauen aus guter Familie warteten in so überlegener Art darauf, daß man ihnen Feuer gab. Er beobachtete sie, wie sie den Rauch langsam inhalierte.
»Wie ich höre, Mr. Vito, sind Sie ein guter Anwalt«, begann die junge Frau. »Der beste in New York.«
Er strahlte innerlich. »Das ist sehr schmeichelhaft, Miß Flood«, erklärte er bescheiden, »aber es trifft nicht ganz zu. Ich tue nur mein Bestes, das ist alles.«
»Ich bin überzeugt, das ist mehr, als andere tun«, erwiderte Miß Flood. In ihren Augen blitzte ein ironisches Lächeln auf.
Er bemerkte es und ging sogleich zur Defensive über. Er würde es nicht zulassen, daß sich eine Dame der Gesellschaft über ihn lustig machte. »Ich gebe mir die größte Mühe, Miß Flood«, erklärte er mit kühlerer Stimme.
Seine Besucherin blickte ihm gerade in die Augen. »Deswegen bin ich auch zu Ihnen gekommen. Ich brauche einen Anwalt, und ich möchte den besten haben.« Nun lag in ihren Augen kein Lächeln mehr.
»Aus welchem Grund?« fragte er.
»Ich bin heute früh von einem Freund angerufen worden. Es läuft ein Haftbefehl gegen mich, und heute nachmittag soll ich verhaftet werden.« Ihre Stimme klang nüchtern und ungerührt. Überrascht sah er sie an. »Sie sollen verhaftet werden? Mit welcher Begründung?« Sie blickte ihn noch immer an. »Schwerer Diebstahl nach Durchführung eines Aktes der Prostitution.«
Einen Augenblick versagte ihm die Stimme. »Was?« brachte er schließlich mühsam hervor.
Sie lächelte, als amüsierte sie dies ungemein, und wiederholte die Beschuldigung. »Deswegen bin ich hier«, fügte sie hinzu.
Niemals hatte er sich in der Beurteilung eines Mandanten so sehr getäuscht. Er holte eine Zigarre hervor, biß das Ende ab und hielt ein Streichholz daran, bis die Spitze aufglühte. Dann legte er das Streichholz in den Aschenbecher. Inzwischen hatte er die Beherrschung wiedererlangt. »Erzählen Sie mir, was geschehen ist«, bat er sachlich.
»Ich saß gestern abend etwa gegen elf Uhr im Sherry an der Bar und trank noch eine Kleinigkeit, als ein Mann hereinkam. Er war betrunken und bestand darauf, mich zu einem Glas einzuladen. Er erzählte mir, er sei sehr reich, und um es zu beweisen, fuchtelte er mit einem dicken Bündel Scheinen herum. Wir tranken dort ein paar Gläser. Dann kam er zu mir hinauf, und dort tranken wir weiter.« Ihre Stimme klang so nüchtern und gelassen, als erzählte sie von einem anderen Menschen. »Gegen halb fünf ist er weggegangen. Er gab mir zwanzig Dollar und ich ihm zum Abschied einen Gutenachtkuß.«
»Was ist dann geschehen?« fragte er.
»Ich legte mich schlafen«, fuhr sie fort. »Heute früh klingelte mein Telefon. Ein Freund rief mich aus dem Präsidium an. Er berichtete mir, dieser Mann sei heute früh erschienen und habe Anzeige erstattet.«
»Haben Sie ihm sein Geld genommen?« fragte Vito.
»Nein«, antwortete die junge Frau. »Er stopfte das Bündel in seine Tasche zurück, nachdem er mir die zwanzig Dollar gegeben hatte.« »Wer hat mich empfohlen?« fragte er.
»Detektivleutnant Millersen vom Revier in der 54. Straße«, antwortete sie. »Ich kenne ihn jetzt seit ungefähr fünf Jahren. Er weiß, daß ich so etwas nie tun würde.«
Er kannte Millersen. Ein guter Kriminalbeamter, der ihm keine faule Sache zuschieben würde. Aber auch ein Kriminalbeamter konnte sich einmal irren. Er streifte sie mit einem lauernden Blick. »Sind Sie sicher, daß Sie ihm das Geld nicht abgenommen haben?« fragte er. »Mir können Sie es sagen. Es ist mir gleich, ob Sie es getan haben oder nicht. Ich werde den Fall ohnehin übernehmen. Trotzdem ist es für mich wichtig, es zu wissen.«
Sie sah ihn mit großen, ruhigen Augen an. Langsam streckte sie die Hand aus und nahm ihre Kappe ab. Sie schüttelte den Kopf, und ihr schimmerndes Haar umfloß ihr Gesicht. »Mister Vito«, erklärte sie mit leiser, rauher Stimme, »ich bin eine Hure, keine Diebin.«
2
»Mr. Bell, wie viele Gläser hatten Sie getrunken, bevor Sie Miß Flood an jenem Abend kennenlernten?« Vitos Stimme war klar und
sachlich.
Der kräftige Mann im Zeugenstand sah den Richter unruhig an. Der Richter blickte starr geradeaus. »Ich weiß es nicht«, antwortete Bell mit gepreßter Stimme. »Ich hatte eine ganze
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