Die Moralisten
hinweg suchten ihre Augen die meinen. »Es ist lange her, Mike.«
Ich nickte. »Ich glaube, diese Worte habe ich früher schon einmal gehört.«
Das Streichholz erlosch, aber erst, nachdem ich einen seltsamen Schmerz in ihren Augen erwachen sah. Da wurde ich froher. Ich hatte nicht geglaubt, daß irgendein Mensch noch die Macht hatte, ihr einen Schmerz zuzufügen.
Sie legte ihre Hand auf die meine. »Wir wollen uns nicht streiten, Mike.« Ihre Stimme war sanft.
»Was haben wir denn deiner Ansicht nach getan, seit dieser Prozeß begann?« fragte ich zornig. »Hier handelt es sich schließlich nicht um ein Spiel.«
Über das Aufglühen ihrer Zigarette hinweg sah sie mir in die Augen. »Das ist etwas anderes, Mike. Das hat mit uns persönlich nichts zu tun.«
Ich empfand die magnetische Kraft in diesen Augen und verlor mich in ihren Tiefen, als hätte mich ein Schwindel erfaßt. Nicht das geringste hatte sich verändert. Ich beugte mich vor und küßte sie.
Ihr Mund war weich und warm. Ich fühlte das jähe Erwachen der Leidenschaft. Ich ließ sie los. Das war ja reiner Wahnsinn. Ihre
Augen waren noch immer geschlossen. »Mike«, flüsterte sie. Ihre Hand suchte die meine und hielt sie fest. »Warum hat das mit uns so gehen müssen?«
Ich zog an meiner Zigarette. »Ich weiß nicht«, erwiderte ich rauh. »Ich habe mich das selbst viele Male gefragt.«
Langsam öffnete sie die Augen. Niemals zuvor waren sie mir so sanft erschienen.
»Danke, Mike«, sagte sie leise. »Ich hatte schon befürchtet, du hättest dich verändert.«
Ich antwortete ihr nicht.
Nach einer Weile begann sie erneut zu reden. »Wie geht es deinen Eltern?«
Ich sah sie nicht an. »Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Herzschlag.«
»Das tut mir sehr leid, Mike«, flüsterte sie. »Das habe ich nicht gewußt.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Und deine Mutter?«
Ich streifte sie mit einem raschen Blick und fragte mich, ob sie wußte, was meine Mutter von ihr dachte. Wieder blickte ich zur Seite. Natürlich nicht. Wie hätte sie das wissen sollen? »Meiner Mutter geht es gut. Sie ist zur Zeit auf dem Land, aber in ein paar Wochen erwarte ich sie zurück.«
Wieder verfielen wir in Schweigen. Wir hatten unsere Zigaretten zu Ende geraucht. Wir schienen unseren Gesprächsstoff aufgebraucht zu haben. »Wie ich höre, hast du eine Tochter«, sagte ich.
Ein Lächeln kam auf ihre Lippen. »Ja.«
»Sie muß sehr hübsch sein«, meinte ich. »Jedes Kind von dir muß es sein.«
Ein seltsamer Blick trat in ihre Augen. Ihre Stimme war sehr leise. »Das ist sie.«
Wieder hüllte uns das Schweigen ein. Es gab unzählige Dinge, die ich ihr zu sagen hatte, Tausende von Fragen, die ich ihr gern gestellt hätte. Aber meine Zunge war mir durch den besonderen Zeitpunkt und die Umstände gebunden. Ich räusperte mich.
»Was ist, Mike?« fragte sie.
Ich sah sie an. »Ich habe nichts gesagt«, erwiderte ich verlegen. »Oh«, sagte sie.
Ein Polizeiwagen kam die Straße entlang. Ich mußte mich gegen den jähen Impuls wehren, meine Hand zu heben und mein Gesicht zu verdecken, aber der Wagen fuhr ohnehin weiter.
Ich wandte mich ihr zu. »Das war ein ganz verrückter Einfall«, meinte ich.
Sie lächelte. »Ich mag verrückte Einfälle.«
»Ich nicht«, entgegnete ich. »Das war stets einer der Unterschiede zwischen uns.«
»Halte mir keine Predigt, Mike«, erwiderte sie ruhig. »Davon habe ich in den letzten Wochen genug zu hören bekommen.«
Ich starrte sie an. »Warum, Marja? Warum?«
Sie zuckte die Achseln. »So etwas geschieht eben.«
»Warum konnten es nicht zwei andere Menschen sein, Marja? Warum wir?«
Sie antwortete mir nicht.
Ich streckte die Hand aus und drehte den Zündschlüssel ärgerlich herum. »Fahren wir weiter«, sagte ich.
Gehorsam fuhr sie an und wieder zur Hauptstraße zurück. »Wohin?« fragte sie.
»Du kannst mich am Broadway absetzen«, sagte ich. »Dort kann ich mir ein Taxi nehmen.«
»Gut.«
Einige Minuten später waren wir dort. Sie fuhr an den Bürgersteig heran. Ich öffnete die Tür und war schon halb draußen, als sie wieder zu sprechen begann. Ich sah sie an. Das Licht eines Schaufensters an der Ecke fiel auf ihr Gesicht.
»Wären es doch nur zwei andere Menschen gewesen, Mike«, sagte sie.
In mir erwachte erneut der Schmerz. »Jetzt ist es zu spät.«
»Für eines nicht, Mike.«
Ich starrte sie an. »Wofür?«
Rasch beugte sie sich vor, und ihre Lippen streiften meine Wange. »Ich liebe dich, Mike«,
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