Die morawische Nacht
breit war er geworden, der einst so Schmächtige –, mit wem er redete? Müßige Fragen – derartiges zählte nicht in der Nacht dort auf der Alten Straße, wo jeder mit jedem reden konnte, ohne Einleitung, ohne daß man einander sich vorzustellen hatte. Und so offenbarte sich Kobal dem anderen, Freund oder nicht, ohne Umschweife, während der kleinen Drehpause vor der nächsten Filmeinstellung, vielleicht auch aus der Müdigkeit heraus. Er schrieb seit langem nur noch Drehbücher, und indem diese »unheilbar persönlich« waren, verfilmte er sie selber, nicht ohne Leidenschaft freilich, und vor allem angstlos, im Gegensatz zu seiner Romanschreibzeit, und auch immer wieder froh, einmal zusammen mit anderen tätig zu sein. Die Literatur hatte in seinen Augen verloren, nur für die Epoche? für immer? Ihrer war nichts mehr, ihrer waren auch nicht die Sterne, denn sie hatte keinen Glanz mehr für den Glanz der Ferne? Und doch, und doch. Franz Kafka war nicht tot. Franz Grillparzer und Adalbert Stifter lebten, mitten unter uns im Nebenraum. Samarkand war nicht weniger sagenhaft und wirklich als früher, war sogar näher gerückt, diesseits der Grenze, wenn auch zum Dorf geschrumpft, zum Nachbardorf hinter dem Nachbardorf, lag statt an der Seiden-, Salz- oder Pfeffer- oder Sonstwasstraße nicht einmal einen Halbtagsmarsch entfernt an der Alten Straße hier. Und so viel Flehen war in der Welt, stummes, soviel Flehen, in so vielen Augen wie vielleicht noch nie. Und so viel Seufzen war zu hören, für den, der Ohren hatte zu hören, schamhaftes, sprachloses, wie noch nie. Nur die Dreisten, die innerlich Feisten, die Schamlosen überlebten? Nein, auch die Scham hatte überlebt, nur anders, als es geschrieben stand. Und die stumm Flehenden und die sprachlos Seufzenden verlangten, ja, lechzten danach, gefragt zu werden, und ebenso, Antwort zu bekommen. Sie wollten überliefert und aufgezeichnet werden, aber nicht unbedingt in Bildern, und schon gar nicht fürs Fernsehen. Und schau, das Kind hier, die Kinder: In ihnen konzentriert sich, ungleich reiner als in uns Großen, Ausgewachsenen, das Geheimnis der Zeit, und dieses Geheimnis, es kann nicht verfilmt werden. Geheimnis der Zeit in den Kindern? Was er damit sagen wollte? Ohne ein äußeres Geschehen oder Dazutun, und ohne daß dem Kleinen da, dem kleinen Körper da, etwas anzusehen war, bestimmte in ihm drin ein einziger Moment die gesamte weitere Lebenszeit. Ein einziger Moment, und nicht etwa die Dauer, entschied, was für das Kind späterhin die Zeit sein würde, und auch wie diese für es sein würde. Der eine, der entscheidende Moment, er schlug ein als ein Blitz in den kleinen wehrlosen Körper, stracks in dessen Zentrum – anders als bei mir Erwachsenem, der ich dagegen, mehr oder weniger, immun geworden bin, und auch lange suchen müßte, um etwas wie ein Zentrum noch zu finden in mir und das Geheimnis dabei war, daß dieser Blitzmoment an dem Kind anscheinend spurlos vorübergeht. Der Verursacher des Blitzes, sein Zünder und Schleuderer, ich, der Erwachsene, der Vater, die Mutter, sah das Kind weiter spielen, wie es im Vormoment gespielt hat – hätte es doch wenigstens innegehalten oder zu mir aufgeschaut –, und merkte nicht, oder erst lange danach, als es schon zu spät war, daß der eine Moment, zeitlebens, eingebrannt bleiben würde, unumkehrbar, unheilbar, achtzig, neunzig, sogar hundert Jahre Zeitkrankheit. Aber ein anderer sollte die Geschichte dazu schreiben, oder sie war vielleicht schon geschrieben, und nicht bloß eine?
Kobal wurde zur nächsten Szene gerufen – das Kind, das als einzig überlebendes unter den Leichen lag –, und der Nachtwanderer setzte seinen Weg fort, beschenkt mit einem Wurstbrot aus der Filmteamküche. Sein Vorhaben, Filip Kobal in dessen Rinkendorf, nah der Alten Straße, einen Besuch abzustatten, konnte er nun vergessen. Und das war ihm auch recht. Es tat gut, unter seinesgleichen zu sein – so fühlte er es, seltsam, noch immer, auch wenn er aus dem Spiel war –, aber möglichst kurz, vorübergehend eben. Einmal waren sie drei gewesen, die in der Gegend, durch die er sich gerade bewegte, sich als Autoren, wie sagte man, einen Namen gemacht hatten. Ah, Namen. Ach, Namen. Wie gut tat es auch, jetzt als ein Niemand durch die Nacht zu gehen, in einem Dunkel, welches in dieser Stunde auf der Alten Straße abschnittweise sich geradezu stofflich verdichtete, zu einem Stoff freilich, so weich und wolkig, daß man sich in ihm,
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