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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Ebensowenig die Rückkehr in seinen angestammten Dorfbereich. Aus der Niemandsbucht vertrieben durch den Lärm, würde der ihn bei seinem Heimspiel kurz oder lang eingeholt haben. Die Stille unter der Großvaterlinde war nach einem halben Tag schon vorbei. Auch gegen den Nachtwind, sogar hier an der Alten Straße, hatte er Stöpsel in den Ohren, sogar gegen das Musizieren der Bäume im Wind, ihre Flöten-, Cello-, Bratschen- und Saxophontöne, wenn sich die Stämme, dicke, dünne, jetzt unten, jetzt oben, aneinanderrieben. Der Lärm war da, weltweit, und hörte nimmer auf. Das anscheinend Häßliche, die anscheinend Häßlichen konnte man schöndenken, oder sie umdenken, indem man, schreibend, sie beseelte – nicht aber im Lärm. Den Lärm, den er meinte, konnte man nicht schöndenken. (Dieser Gregor Keuschnig hätte der Hauptredner beim Weltlärmkongreß sein können …) Und die Flucht, der Rückfall, ins Sammlerdasein würde keine Wende bringen. Im Gegenteil: als Sammler würde er noch den Rest seiner Seele verlieren. Mehr und mehr würde dabei die Umwelt sich verengen und, in seiner Sammelgier, zuletzt verschwinden, und vor lauter Sammeln wäre er zu keinem Gedanken mehr fähig, und schon gar nicht zu einem höheren. Was nicht verschwände, wäre der Lärm, bis eines Tages die letzte Verwandlung des Gregor Keuschnig der Fall sein würde: die in einen Amokläufer, Amokläufer aus Wehrlosigkeit. Wehrhafte Jäger, wehrlose Sammler.
    Es war freilich, erzählte unser Gastgeber in der Morawischen Nacht, hinzuzufügen, daß am Ende seiner Phantasie angesichts der Umrisse des »Gregor Keuschnig« in der Alte-Straße-Nacht dieser sich zu ihm umdrehte, langsam, und mit einem Lächeln, das klar machte, er war sich, Sammeln hin oder her, all die Zeit nicht bloß des Umkreises bewußt gewesen, sondern auch des Blicks in seinem Rücken. Nichts an dem Unbekannten wiederholte, von vorne gesehen, den Keuschnig, den der Wanderer kannte. Was sich zeigte, war, in der Stunde zwischen Nacht und Tagwerden, ein Menschengesicht, hellwach, ruhig, offen. Und dazu wieder der Gedanke, es gehe nichts darüber. Versteht sich, daß, gegen Bezahlung, das eine oder andere über Nacht Gesammelte seinen Besitzer wechselte; er würde nicht mit leeren Händen heim zu seinem Bruder kommen. Wehrloses Schauen des Sammlers?
    Im Gegenteil: wehrhaftes? Ah, das Verschwinden der Vorurteile.
    In den klassischen Geschichten von Leuten unterwegs konnte auf das Bestehen wieder eines Abenteuers der Satz, gleich einem Refrain, folgen, sie, die Helden, oder sonstwelche, seien in der Folge eine Zeitlang weitergeritten, über die Mancha, durch die Steppe oder die Prärie, »oder daß etwas Erwähnenswertes sich ereignete«. Während er nun auf der Alten Straße, oder was von der übrig war, weiterwanderte in den Morgen hinein, dem Sonnenaufgang entgegen, ereignete sich eine Zeitlang nichts, rein gar nichts mehr, und vielleicht gerade so ereignete sich einiges, das zumindest ihm einer Erwähnung wert erschien. Einer nach dem andern, kamen ihm im Frühlicht seine Vorfahren entgegen, holten ihn ein, überholten ihn. Er traf sogar die, welche er einzig vom Hörensagen kannte, aus den Erzählungen vor allem seiner Mutter. Der eine aus der Sippe, welcher nach Amerika ausgewandert war, vor bald eineinhalb Jahrhunderten, und dort verschollen ging, karrte seine Habseligkeiten, ein paar aneinandergeschnürte Bündel, in einer einrädrigen Schiebtruhe, carriola genannt, an ihm vorbei und spuckte einen kautabakbraunen Speichel aus, die blaßblauen Augen weit offen, ohne zu blinzeln. Dann zog der Großvater, noch jung, einen kleinen Leiterwagen hinter sich her, in dem der ältere Bruder der Mutter saß, als Kind, ein Auge hinter einer blutverkrusteten Binde, Vater und Sohn auf dem Weg in die Stadt, zu dem Arzt, der dann sagte, sie seien zu spät gekommen. Dort, wo die Straße über eine zerstörte Bachbrücke führte, die nur noch aus einem Randbalken bestand, so daß man darüber zu balancieren hatte, marschierte der Einäugige und gleichwohl, wie sagte man, Wehrtaugliche, weinend vor Wut, in den Krieg, und danach überholte den Wanderer, einen Seesack auf dem Rücken, der jüngere Bruder der Mutter, der am Vorabend aus dem städtischen Internat für Priesterzöglinge geflüchtet war und im Morgengrauen sich dem elterlichen Hof näherte, mit nichts sonst im Sinn, als nie mehr von daheim wegzugehen (auch er dann bald wehrtauglich – die Tundraerde sei dir leicht!). Alle seine

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