Die morawische Nacht
nur lauter geworden, obwohl er, wie fast immer, nicht allein war, sondern umgeben von ähnlich öffentlichen Gestalten wie er, und spürbar, wie über den Satelliten mitgesendet, deren Sichabwenden von dem Schluchzenden, sogar das Lidersenken, eines jeden für sich, und aus dem Telefonraum Verschwinden, leise, leise, lassen wir ihn allein, und zum Schluß hatten sie beide, der eine hier, der andere dort, einander angeschluchzt, angeheult und -gewimmert, wer war da Vater? wer Kind?, ohne Worte, was bei ihm, dem Kranken, eine Sauerstoffzufuhr in den Rest seiner Lunge bewirkte wie sonst nur nach taglangem Gehen hier auf der Alten Straße. Und damit war seine Geschichte zuende. Er ging noch eine Zeitlang neben dem Heimwanderer her, sagte aber kein einziges Wort mehr. Gegen Abend dann kehrte er um, zum Telefonieren? Es war er, der zeitweise Gefährte, der den kleinen Teppich geschenkt bekam. Im Blick über die Schulter auf den vergessenen Sohn, westwärts: Rauch flog weg von dessen Kopf. Rauchte er? Der Himmel über ihm erschien gewölbt (nicht oft erschien er so). Die Sonne, fast schon am ziemlich ebenen Horizont – die Berge lagen in der Gegenrichtung –, warf an den unzähligen Schottersplittern der Straße lanzenlange Schatten. Bis in diesen Horizont hinein war das Keuchen des Sohns zu hören. Er keuchte zum Steinerweichen, als trage er den Vater auf dem Rücken.
Der andere, »ich«, wanderte die Nacht durch. Der ehemalige Politiker hatte ihm eine Handvoll Nüsse zugesteckt, »vom eigenen Garten«, der ehemalige Lehrbeauftragte ein Stück Schokolade, »aus meinem Vaterland«: das war seine Wegzehrung. Die Nacht auf der Alten Straße war hell, auch dank des immer noch weißen, womöglich ausgebleichten Schotters. Selbst wenn dieser streckenweise in den Untergrund gesunken und von den Nachkriegsbeschichtungen überdeckt war, blieb von ihm weiter im Unsichtbaren eine gewisse, eben allein von dem Schotter dieser Alten Straße da herrührende, unvergleichliche Festigkeit, die einen nicht vom Weg abkommen ließ, auch nicht an den zwischendurch doch fast stockfinsteren Abschnitten, sooft es durch einen Wald, in der Regel dichtverwachsenen Fichtenwald ging. Sogar in der Nacht kam es zu nicht wenigen Begegnungen, freilich jeweils bloß so im Vorübergehen, für ein paar eher zu erahnende, dafür aber nicht weniger sich ihm einprägende Augenblicke, Begegnungen überdies nur für ihn, den Gehenden, indes der eine wie der andere der Begegneten auf dem nächtlichen Weg ihn, vielleicht auch mit Absicht, gar nicht wahrnahm. Indem der Gastgeber der Morawischen Nacht dann uns anderen davon erzählte, war es, als würde die Erzählnacht – spät war es schon – noch verstärkt durch die, welche er uns erzählte.
Lange erfaßte er von den nächtlichen Gestalten auf der Alten Straße einzig ihre Art, sich zu bewegen. Je nach dem, wie sie daherkamen, ließen sich trotz der Dunkelheit klar verschiedene Gehtypen ablesen. Jene, die beim Gehen Wind machten, wollten so die Aufmerksamkeit auf sich lenken, waren aber harmlos; von ihnen war nichts zu befürchten; wie sonst bei eitlen Menschen fühlte man sich vor ihnen in Sicherheit. Dagegen gab es gefährliche Geher: bei denen allein schon die Gehweise die Gefahr anzeigte, so wie bei gewissen Hunden ihre Laufhaltung aus der Ferne schon: man mußte damit rechnen, angefallen zu werden. Ganz anders die friedfertigen Geher: man konnte sicher sein, von ihnen, wie sie da einhergingen, beim Sichkreuzen von Gehendem zu Gehendem gegrüßt zu werden, mit einem Wunsch für einen guten Weiterweg. Und wieder etwas anderes die, ohne eigens eine Absicht, friedensstiftenden Geher: vollkommen in ihrem Dahingehen, in ihrem Unterwegssein aufgegangen – das sollte kein Wortspiel sein –, ohne von der Umwelt Notiz zu nehmen, geschweige denn dem Betrachter, steckten sie diesen an mit ihrer so beiläufigen, jeden irgendwie kriegerischen Gedanken ausschließenden Kunst des Gehens und gaben ungewollt wie halt jede Kunst, oder etwa nicht?, ein befreiendes Beispiel – leuchteten vor in der Finsternis. Dagegen die kriegerischen Geher, laut auftretend, aber eher ungefährlich, noch jedenfalls, kriegerisch sonst meist nur in der Mehrzahl, in der Nacht auf der Alten Straße freilich auch in der Einzahl. Und die verzagten oder verzagenden Geher, mit hängenden Köpfen und Schultern, kleinkleine Schritte, kaum die Beine vom Boden bringend (aber immerhin gingen sie, ob einzeln oder zu mehreren, noch jedenfalls). Und
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