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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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geeignet mit den dicken Sohlen für Berg und Tal, ohne eigens Wanderschuhe zu sein, glänzten auf dem Schotterband, als sei das, sagen wir, die Bond Street in London oder wo. Ein gänzlich Unbekannter war das, der, trotz Atemnot, in einem fort auf ihn ein-, oder eher vor sich hinredete. Auf diese Weise machte er sich dem anderen dann aber bekannt. Ein in die Gegend Verirrter außerdem? Mitnichten. Mit Absicht hatte er sich hier angesiedelt, in der Nähe der Alten Straße. Seit langem war er lungenkrank, auf den Tod, und täglich einmal bemühte er sich auf die Alte Straße, um Luft zu holen. Das Gehen da, ein leichtes Auf und Ab, erfrischte seine Lunge, oder was von der übrig war. Er war in der Landeshauptstadt Dozent für »Weltliteratur« gewesen, und jeder dritte oder vierte seiner Sätze war ein Zitat, von Homer, von Shakespeare, von Keats, oder auch – von seinem eigenen Vater. Ja, sein Vater war ein weltberühmter Dichter, »aus der Karibik, aus Nigeria, aus Madagaskar – wie ihr wollt« (sagte der Erzähler zu uns anderen in der Morawischen Nacht). Er zitierte seinen Vater und haßte ihn. Ja, lebte dieser Vater denn noch? – Und wie! Es ging ihm so viel besser als seinem Sohn, der jeden Tag auf der Alten Straße, fern, so fern vom Heimatland, gegen den Tod kämpfte. Hatte sein Erzeuger ihn denn verstoßen? – Keine Antwort. Klar wurde, daß der Dichter seit jeher gleichwen geopfert hatte für seine Göttin, die Poesie. Es war nicht einmal ein Opfern, vielmehr ein Im-Stich-Lassen. Es kostete ihn nichts; den anderen hintanzustellen oder überhaupt aus dem Blick zu verlieren, war kein Konflikt für ihn; er hatte nichts abzuwägen oder zu befragen, geschweige denn Krieg zu führen gegen sich selber, jenen Krieg, den eine Weltreligion den Großen nennt. Er hielt sich von Geburt an der Poesie geweiht und für deren Stellvertreter auf der Erden, und dachte sich im Recht, für seine Göttin über Leichen zu gehen oder die, welche ihm die Nächsten sein sollten, aus seinem Dichterleben zu verbannen – sie sterben zu lassen, wie einst seine Eltern, dann seine Frauen und jetzt seinen Sohn, den Isaak und Ismael in einer Person. Göttin? Schon längst war die zu einem Götzen geschrumpelt, zu einem ausgestopften Popanz, ohne Luft in den Lungenflügeln, was hieß da Flügel?, und der Vater dessen Verkörperung. Längst flog dem kein Gedicht mehr zu und kehrum wieder aus ihm heraus. Längst übte er nur noch ein Amt aus, wo immer er auftrat, war ein Marktschreier unter tausend Gedichtmarktschreiern, auch wenn er seine Poesie im Flüsterton vortrug, gab sich, redete, saß da als öffentliche Person selbst in den heimlichsten Momenten – aber was konnte an solch einem Dichtertumdichter noch heimlich sein? –, hatte nicht bloß eine Meinung zu allem und jedem, sondern äußerte die auch ständig, öffentlich, weltweit, schaute, Aufmerksamkeit fordernd, im Kreis umher, repräsentierte das Dichtersein, selbst wenn er ausnahmsweise einmal allein war, auf dem Abort oder sonstwo. Und statt daß ihm endlich die Luft ausging, war das, sozusagen stellvertretend, ihm, seinem Sohn, passiert. – Hatte der Vater den Schwerkranken denn vergessen? – So hatte es lange geschienen. Aber seit er wußte, daß seinem Sohn das Ende drohte, rief er den fast allabendlich quer über die Kontinente hin an und ließ sich von ihm das Bulletin geben. – Und das hieß? – Der Vater plante, über den toten Sohn ein Gedicht zu schreiben, sammelte aus der Ferne dessen vorletzte, letzte und, an diesem Abend vielleicht schon, allerletzte Worte. Er plante: das besagte aber nicht, daß er am Telefon Hintergedanken hatte. Der Plan war von vornherein klar, er gehörte zu seinem Beruf, und er hinderte den Vater auch nicht, beteiligt zu sein; seine Stimme, nachdem er jeweils die mühselig hervorgepreßten Zustandsberichte seines Kindes angehört hatte, war nicht die üblich gewordene Verlautbarungsstimme, sie klang ergriffen, wie kurz vor einem Aufschluchzen, ergriffen vom Leidensschicksal des anderen wie auch, auf gleiche Weise, untrennbar davon, daß dieses Schicksal nach einem Gedicht schrie (ja, schrie), einem langen, einem epischen, einem, wie es ihm, dem Dichtervater, ein Lebtag vorgeschwebt hatte, einem anderen karibischen oder nigerianischen Epos, einem Epos von einem anderen Verlorenen Sohn. Und vor kurzem war sein Vater mitten im Ferngespräch auf einmal tatsächlich in ein Schluchzen ausgebrochen, gar nicht aufgehört damit hatte er, war immer

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