Die morawische Nacht
die häßlichen Geher, bei denen, anders als es sich doch wohl gehörte, oder nicht?, der jeweilige Mensch sich nicht als ganzer, in einem, die Beine und die Stirn, bewegte, sondern sämtliche Glieder beim Gehen durcheinandergerieten, -baumelten, -schwengelten, statt Kopf über Hals Hals über Kopf, und das alles böswillig – hätte es denn sonst so häßlich gewirkt –, statt eines Gehens ein wie rachsüchtiges, beleidigenwollendes Sichgehenlassen, welches wirkte, als wolle da einer der Welt zeigen, das einzig Wahre, das, was zuletzt als einziges bliebe, sei solch ein verächtliches nicht und nicht von der Stelle-Kommen. Und beleidigender noch die absichtsvoll schönen Geher, welche die Alte Straße mit einem Laufsteg verwechselten und bei ihrem Defilee in eine Weite blickten, die sie bloß vortäuschten, und mit ihren rollenden Schultern und ausgreifenden Schritten einen Schwung vorzauberten, der aus weißderteufelwas und nur nicht aus solchem Gehen kam, so getürkt wirkte er, und einen höchstens dazu ansteckte, vor dieser Art Geher auf allen vieren zu krabbeln oder auf dem Bauch weiterzukriechen. Der Umschwung dann aber durch jene Geher, die unser Gastgeber noch über die friedfertigen und friedensstiftenden stellte: Er nannte sie »die phantasieanregenden Geher«, und variierte, oder korrigierte das dann zu »die inspirierenden«. Merkmale? (Der Zwischenrufer) – wollte er uns keine geben, außer vielleicht, daß die inspirierenden Geher, Alte Straße hin oder her, sich ihm unter dem Himmel bewegten, dem bestirnten wie auch dem unbestirnten; und fügte hinzu, daß dort in der anderen Nacht fallweise auch die Gehertypen, wie Schimären, mitten in einem Schritt, ihre Gestalten gewechselt hätten, ein friedfertiger Geher konnte momentan zu einem verzagten werden, ein falschschöner zu einem schönwahren, ein zur Ordnung rufender zu einem gefährlichen, undsoweiter.
Besonders hoch her, oder anders hoch her, ging es auf der Alten Straße, wie denn sonst, in der Stunde nach Mitternacht. Aktion! Und zwar? Flucht und Verfolgung. Die Vergangenheit des Landes kehrte zurück, in Szenen des Krieges, auf Leben und Tod. Schon eine Zeitlang vorher war die Stille eine ungute geworden. Gleich würde losgeschlagen. Und dann trat unversehens ein Grüppchen von Partisanen aus dem das Straßenstück säumenden Unterholz, völlig lautlos, ohne daß man sich dabei über irgend etwas wunderte, auch nicht über das, was folgte. Einige Kinder waren mit den Partisanen, von diesen geführt, eine Hand auf der Schulter, und gingen mit geschlossenen Augen, schliefen im Gehen. Niemand sprach. Weg von der Straße, ihr seid verraten! wollte man rufen, brachte aber kein Wort heraus. Und wirklich sprangen nach einem Augenblick an der nächsten Kurve Leute, von denen nur die Hakenkreuze und die Gewehrläufe ins Bild kamen, aus dem Straßengraben und, und? und? Siehe oben. Und eine Kirchenglocke läutete auf einmal, und das nach Mitternacht. Aber ebenso plötzlich machte sich jetzt noch eine dritte Gruppe bemerkbar, auf einer Art Hochstand, einem aus Stahl, neu, der sichtlich nicht zur Alten Straße gehörte: Eine Kamera zeigte sich dort, eine, die auch im Dunkeln filmen konnte – es handelte sich um eine Filmszene, die Aktionen waren die eines Films, das Hinstürzen, das Blutsprudeln, das Augenbrechen, das Zurück-ins-Unterholz-Flüchten des einen Kindes, des einzigen Überlebenden – welches später, als Altgewordenes, sagen würde: »Wir sind immer in der Nacht gegangen. Ich habe auf die Sterne geschaut, bis ich eingeschlafen bin. Wenn so ein Partisanenkind überlebt – die Angst bleibt fürs ganze Leben. Ein Kind hat viel mehr Angst um sein Leben als ein Erwachsener. Das weiß ich erst jetzt. Ich hatte nur Angst. Ein Leben in Angst, und in der Angst habe ich das Gefühl gehabt, ich sei ein Stein. Alles Mögliche habe ich versucht, um kein Stein mehr zu sein, um mich zu spüren. Aber ich war ein Stein – fertig, aus. Und etwas anderes ist mir geblieben: daß ich nie mehr Vertrauen zu jemandem gehabt habe, über meine eigenen Gefühle, nicht nur über die Kriegsgefühle, zu reden. Das bleibt in mir.«
Und sieh da, wer war der Regisseur, wer drehte den Film? War das nicht Filip Kobal, der Schreiber aus dem Nachbardorf? Ja, er war es, und er war auch der Autor des Drehbuchs, worin er den Wanderer dann bei Taschenlampenlicht ein wenig lesen ließ. Erkannte er überhaupt den alten Freund und früheren Konkurrenten? Wußte Filip – dick und
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