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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Abwesenden ließen sich spüren auf dem Streckenteil, wo nichts war, nichts sonst geschah – bildeten einen Treck, auch wenn sie sich in entgegengesetzte Richtungen bewegten, wehten heran, wehten den Wanderer an, wehten durch ihn durch, verschollen nicht nur der eine, Verschollene sie alle. Nur die Mutter ließ sich nicht blicken. Und das war ihm recht. Zwar war er im Lauf der Zeit sein grundsätzliches Schuldbewußtsein, allem und jedem gegenüber, losgeworden – wozu wohl beigetragen hatte, daß der Hauptgrund für seine Schuldgefühle, das Schreiben oder allein schon das Zum-Schreiben-Drängen, nicht mehr bestand. Aber vor seiner Mutter fühlte er sich weiterhin schuldig. Mit der Ausrede, schon zu sehr »ein eigenes Leben« zu führen, hatte er sie, so seine Vorstellung, im Stich gelassen, oder es aus der Ferne geschehen lassen, daß sie, noch in der Verlassenheit die Stolze spielend, wegstarb. Ohne sein wie einverstandenes Geschehenlassen, dachte er, könnte die Frau immer noch leben, sogar in der ihr gemäßen, gar nicht mütterlichen Heiterkeit, die Zigarettenasche abschnipsend, sich in ihn einhängend (was er inzwischen sogar dulden würde), den Kopf herumwerfend für nichts und wieder nichts. Und statt dessen lebte sie nur noch in seinen Träumen, worin dann regelmäßig der Tod bevorstand; worin sie jedesmal neu wieder im Sterben lag. Wäre er doch auch dieses letzte Überbleibsel seines Grundschuldbewußtseins endlich losgeworden, oder könnte es wenigstens auf die Erbsünde oder sonst etwas schieben.
    Nach Sonnenaufgang, etwa eine Meile vor der Einmündung der Alten Straße in die Neue, traf er wieder auf einen Menschen aus Fleisch und Blut, eine lebende Seele. Es war nicht mehr weit bis zur nächsten Siedlung, von der, hinter einer Anhöhe, schon ein für die ländliche Gegend erstaunliches Durcheinander von Geräuschen, die Geräusche für sich schon erstaunlich, dahergeschallt kam, und dazu mehr und mehr Rauch zu riechen, aus noch unsichtbaren Rauchfängen, und der Wanderer bemerkte den anderen hinter sich, so leise war der unterwegs, wohl nur, indem er sich im Gehen nach seiner Art ein paarmal im Kreis drehte, um den müdgewordenen Blick aufzufrischen. Auf den Fersen war ihm der Zweitwanderer da, leise, leise, hätte ihm, der kurz gestockt hatte, beinah den Schuh vom Fuß getreten. Aber keine Angst: Alles an dem Hintermann schien gemacht zum Entspannen. Alles an ihm erschien freundlich: die Augen, die »mich« anstrahlten – »ich« war gemeint, einzig »ich« –, die Stimme, die sich aus der Tiefe der Brust, ohne besonderes Atemholen, sonor, in einem vertrauenserweckenden Timbre, zu »mir« her schwang, der feste, doch nicht zu feste, warme, doch nicht zu warme Händedruck, die Stellung der Beine, weit auseinander, doch nicht zu weit (anders als manche so ihr Terrain behauptenden Militärs), und vor allem die dicken breiten, wie von Natur zu einem träumerischen Lächeln geschürzten Lippen, die, wieder in einer klassischen Geschichte, von Hingabe und Beseligung gezeugt hätten, und die ihn, den Wanderer, an die Lippen der drei mittelalterlichen Könige aus dem Morgenland erinnerten, zu betrachten an deren Statuen daheim bei der Dorfkirche, die zu dritt dort ihre Geschenke darboten, Gold, Weihrauch und Myrrhe, für das Neugeborene in Bethlehem, und so kam ihm denn auch, mit den Namen der Könige, der Name für den freundlichen Mitgeher zugeflogen, »Melchior«, und so hieß der dann bei ihm für den Lauf der weiteren Begebenheit.
    Mit Selbstverständlichkeit wanderten die beiden auf dem letzten Teilstück der Alten Straße gemeinsam. War er diesem Melchior nicht unterwegs schon immer wieder begegnet, auf dem Festival der Maultrommler, auf dem Jungfernflug von G. nach K.? In der Tat spielte sein Begleiter dann ein paar Schritte lang auf einer Maultrommel, dem neuesten Modell aus Sardinien, nicht gerade aufhorchen lassend, aber immerhin. Und dem Melchior da erzählte der ehemalige Autor dann, lange vor der Nacht mit uns anderen auf dem Morawa-Boot, das eine und andere von seiner europäischen Rundreise. Auch das ergab sich höchst selbstverständlich: so erwartungsvoll zeigte sich Melchior vom ersten Moment an; so sehr war er ganz Ohr, bevor er überhaupt etwas zu Gehör bekam. Und wie ging er mit dem mit, was er dann hörte. Jeder zweite Satz ein Lacher. Im Sitzen hätte er sich in einem fort auf die Schenkel geschlagen; wäre noch ein Hörer an seiner Seite, stieße er dem ebenso in die Rippen;

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