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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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ohne dabei um den Weg zu fürchten, dem Erdboden enthoben und sich selber körperlos wähnte, von der Finsternis unter die Achseln genommen und zum Dahinschweben gebracht, jedenfalls ohne die frühere Gehanstrengung und ohne den kleinsten Luftwiderstand. Namen, o Namen. Kaum je hatte er Namen erfinden und hinschreiben können – so als seien diese für ihn, für sein Schreiben, tabu. Und doch hatten gewisse Namen ihn erst auf die Sprünge gebracht. Nabuchodonosor. Maracaibo. Tatabanya. Kristiania. Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Joseph Conrad. Joseph Cotten. Elio Vittorini. Gallizien. Dolina. Gariusch. Fontamara. Providence. Lind. Dob. Himberg. Matthias Sindelar. Den Anstoß zu einer seiner ersten Geschichten hatte allein so ein Name gegeben, welcher da der eines Mörders war: Geronimo Benavente. Gelobt seien, trotz allem, die Namen!
    Er dachte an Gregor Keuschnig, den Dritten aus der Gegend, mit Filip Kobal und ihm selber. Und es war dann nicht das erste Mal, daß der, dessen Name ihm gerade in den Sinn gekommen war, in der nächsten Stunde leibhaftig auf den Plan trat. Jedenfalls sah er die Gestalt, auf die er in der Folge, während der Nacht auf der Alten Straße, traf, als den Gregor Keuschnig aus wieder einem anderen Nachbardorf – ein schiefwinkeliges, sehr spitzes Dreieck bildeten ihre drei Dörfer –, der dem Hörensagen nach seinem französischen Gastland und seiner Niemandsbucht den Rücken gekehrt hatte für sein angestammtes Rinkolach, dessen einziger Einwohner inzwischen. Der Mann, der (wieder eine Taschenlampe) an einer Kurve in den Wald, an der fraglichen Stelle ein Kiefernwald, hineinleuchtete, war dann aber ein anderer als Gregor Keuschnig, glich dem aber derart, vor allem in seiner Haltung, daß der Wanderer, in seinem Rücken stehengeblieben, nicht umhin konnte, als in dem Fremden seinen früheren Freund und Fastangehörigen zu sehen. An einem Unbekannten beschaute, ermaß und studierte er einen seiner Nächsten; erkannte so vielleicht klarer, als wenn er ihn persönlich vor Augen hätte, wer dieser war, mit welchen Eigenarten und bezeichnenden Merkmalen. Und auch das geschah ihm nicht zum ersten Mal.
    Die Nacht war nicht mehr so stockdunkel, und die Umrisse »Gregor Keuschnigs«, die vorgebeugten Schultern und der von hinten ziemlich eckige Kopf, samt dem »verlorenen Profil«, wurden zusehends deutlicher. Der Nachtwind hatte schon etwas von einem Morgenwind, wehte wie von unten, vom Erdboden, herauf, wechselte die Richtungen. Der Mann da am Rand der Alten Straße schien den Blick in seinem Rücken nicht zu bemerken. Er hatte Augen nur für den Lichtkegel seiner Lampe, den er Zoll für Zoll – es gab dieses Maß also noch – über die Spreu aus Kiefernnadeln rücken ließ. Zugleich gab er sich, wie bewußt, zu sehen, zeigte sich, nicht dem einen, Bestimmten, sondern dem Umkreis, den Zwischenräumen zwischen den Baumstämmen, zwischen den im Wind auseinanderweichenden Blättern der vereinzelten Sträucher, zwischen den Brennesseln und Brombeerranken. Zu seinen Füßen ein Korb, voll von dem, was er in der Nacht gesammelt hatte, Löwenzahnsalat, Vogelfedern, Schlangenhäute, einen mumifizierten Feuersalamander, Birkenrinden, weiß, mit Zeilen wie ein naturgegebenes Schreibpapier, und, wie nicht anders zu erwarten, zwischen das übrige Sammelgut gebettet, eine Vielzahl, auch Vielfalt von Pilzen, Frühjahrsmorcheln, Judasohren, Stockschwämmchen, angeordnet und ausgestellt, als solle der Welt bewiesen werden, daß es möglich war, das ganze Jahr über frische Pilze zu sammeln, auf diese vor allem war er aus, sie suchte er – es traf demnach zu, was von ihm geflüstert wurde – inzwischen sogar in der Nacht.
    Als wer, als was für einer, zeigte sich also dieser »Keuschnig« da? In dessen Umrisse vertieft, bekam der Nachtwanderer allmählich ein Bild, nein, nicht bloß eines, vielmehr eins nach dem anderen, noch und noch Bildatome, die aufeinanderfolgten und eine Geschichte ergaben, keine allerdings des »was bisher geschah« aus »Gregors« Vergangenheit – eine, die einsetzte in der Gegenwart ohne Zutun, jetzt, im Hinschauen, und ebenso unmerklich überging in die Zukunft, in das, »was später geschah«, geschehen würde. Es war eine schwarzmalerische Geschichte, ohne Vorsatz: Sie malte sich, hinter der Stirn des Betrachters, von selber so. Eine jämmerliche Geschichte. Und hier ein paar Atome oder Elemente davon: Das Sammlertum war für Gregor Keuschnig nicht der erhoffte Ausweg.

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