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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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und wirklich äugte er immer wieder neben sich ins Leere, nickte da hinein, als wollte er sagen: »Nun hör dir das an! Ist das nicht eine Wucht? Wie wahr! Wie wahr!« Und so gab er auch dem Erzähler das Gefühl, dessen Geschichte sei etwas ganz Besonderes, etwas Einmaliges, jede kleine Episode eine unerhörte Begebenheit, und auch die einzelnen Worte und Wörter seien die richtigen und kämen vor allem jeweils im rechten Moment – wie hätte dieser Melchior sie sonst ständig nachgesprochen, oder sie kommentiert mit einem »Genau!«, einem »Weiter so!«, einem »So und nicht anders!«? Und zuguterletzt legte er ihm den Arm um die Schultern und wanderte mit dem Erzähler umschlungen, und im Gleichschritt, das pausbäckige Gesicht dem anderen zugekehrt, so nah, daß dem das mit der Zeit fast peinlich wurde, die Erzählsätze ihm von den Lippen ablesend und so vom Nachsprechen ins Mitsprechen übergehend, wobei freilich ein meist sinnloses Kauderwelsch herauskam, ähnlich wie dem versuchten Mitsingen eines Lieds, dessen Text man erraten wollte, indem man dem Sänger auf den Mund schaute.
    Danach gab ihm Melchior einen Klaps auf den Rücken und löste sich von ihm. Es folgte ein wie nachdenkliches Schweigen, in dem sie einige Zeit nebeneinander hergingen. Das letzte Stück der Alten Straße war angelegt als ein Trimmpfad, für die Bewohner der mit einem Getöse erwachenden Ansiedlung jenseits der Anhöhe? für die vom langen Weg ermatteten »Alte-Straße-Nostalgiker«? Der einzige für den Augenblick, der bei den einzelnen Stationen des Pfades hielt und die Anweisungen auf den Schildern befolgte, wenn auch eher im Spiel, und übertrieben, war Melchior. Er trippelte, hüpfte, robbte auf dem Bauch, schlug Purzelbäume, erkletterte einen Sprossenpfahl, und als einmal da stand: »Den Graben im Lauf durchqueren!«, befolgte er das ebenso wörtlich wie dann ein: »Den Kopf in die Hände nehmen und sechsunddreißig Mal zwischen die Knie pressen!« Zunehmend zahlreich kamen Leute aus der Siedlung entgegen, alle einzeln, keiner laufend, nichts als Morgenspaziergänger, die den Trimmpfad Trimmpfad sein ließen, und er grüßte die einzelnen schon von weitem, laut, winkte ihnen zu, mit dem breitesten Lächeln, das eher scheu, auch verwundert, erwidert wurde. Zugleich machte er einem jeden Platz, wich vor ihm zur Seite, ließ ihm an den Engstellen den Vortritt, höflicher war kaum möglich. Allein seine Weise zu gehen zeigte an, daß er das Gegenteil war von einem der weltweit üblich gewordenen Raumverdränger: Er machte sich schmal, bewegte sich vorwärts in einer Art Seitwärtsgang, in welchem seine Hüfte vorauswies, wie wenn er sich so behutsam, nur ja an niemanden anstoßen, durchschlängelte durch eine dichte Menge, tänzelnd von Zwischenraum zu Zwischenraum, auch mit Hüpfschritten, kindhaften, mittendrin, machte sich so nicht bloß schmal, sondern auch klein, und zog spürbar alle Sympathien der ihm Begegnenden auf sich, jungen wie alten, Männern wie Frauen, auch der Hunde, die sämtlich das Gestreicheltwerden von ihm, der nur Liebes im Sinn haben konnte, förmlich suchten. Und an der End- oder Anfangsstation des Trimmpfades, schon in Sichtweite der Neuen Straße – der Morgenverkehr dort gestaut –, warf er sich, wie von dem Piktogramm vorgezeichnet, auf die Knie, verharrte so, als vor einer Andachtsstätte, beugte den Kopf und berührte in Abständen mit der Stirn rhythmisch den Schotterrest der Alten Straße, den Körper in Richtung Sonnenaufgang, was, wohl nicht mehr gespielt, eine Reverenz sowohl vor Mekka als auch Jerusalem sein konnte.
    Lange Zeit verharrte Melchior so, kaum mehr sichtbar im Unkraut, das den Schotter überwucherte. Nein, das war kein Spaß mehr; etwas ging vor sich in ihm. Und als er sich endlich erhob, geschah das in einem Aufspringen. Aber er setzte danach den Weg nicht fort. Was er dem Wanderer sagte, nicht ins Gesicht – keinen Blick mehr hatte er für dieses –, sondern an ihm vorbeischauend, kam aus ihm im Stehen, ohne daß er einen Fuß oder eine Hand bewegte. Und er sagte unter anderem folgendes: »Mein Lieber, gib's auf. Ich weiß, wer du bist. Auch ich schreibe, nicht nur für Zeitungen, ich schreibe auch Bücher, zeitweise auch Romane, à mes heures , wie es so schön heißt im Französischen. Schon lange verfolge ich dich und deine Literatur. Eure Dichterliteratur, eure gedichteten Bücher, sie haben ausgespielt. Die dichterische Sprache ist tot, es gibt sie nicht mehr, oder nur

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