Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
kein Thema. Jedes Wort und jeder Satz, sie stehen heutzutage von vorneherein zur Verfügung, gleichsam als Fertigteile. Schluß mit deinen Schuldgefühlen und auch, zugegeben, deiner Freude. Es hat ausgezittert, Freund!«
    Das und noch mehr sagte Melchior seelenruhig, mit seiner geschulten Stimme, den leuchtenden Augen und dem telegenen Lächeln, zwischendurch auch, ohne den weichen schwingenden Tonfall zu ändern, mit einem Willkomm aus dem tiefsten Herzen für die sporadischen Geher auf der Alten Straße, so als sei er deren Herr. »Und wie bist du dann doch in das Dorf und zurück zu uns auf den Balkan gekommen?« fragte an dieser Stelle der Zwischenrufer der Morawischen Nacht. »Wie bist du das Monstrum losgeworden?« – »Ich habe ihm die Wilde Jagd an den Hals gewünscht. Ich habe ihn zum Teufel gewünscht«, sagte unser Erzähler. – »Und hat dieses Wünschen geholfen?« – »Ja. Für den Moment. Aber er würde immer wieder sich einstellen, in anderer Gestalt. Seinesgleichen ist schaurig unendlich.« – »Und wie ging er zum Teufel?« – »Er fuhr auf der Stelle in einen Igel, dessen Stacheln als vergiftete Pfeile in alle Richtungen schossen, und sein Gesicht wurde eine Fratze unter den vielen Graffitifratzen an einer ehemaligen Feldscheunenwand.«
    Als das nächste Monstrum in der Geschichte entpuppte sich der Erzähler selber. Bevor er zur Sache kam, fragte er uns Zuhörer auf dem nächtlichen Boot, ob uns denn aufgefallen sei, daß er das, was er auf seiner Wanderschaft erlebte, immer seltener zugleich jener Frau weitererzählte? Daß seine »Ich sah dir …«, »Weißt du, dann ging ich …«, »Stell dir vor, zwei Eidechsen paarten sich dir da in der Frühlingssonne …« zuletzt gänzlich ausgeblieben waren? Mitten in seinem Fragen sprang, durch das Bullauge in der Küchentür zu sehen, die fremde Frau von ihrem Köchinnenhocker auf und stürzte dann in den Salon und rannte durch die andere Tür hinaus auf das Deck, wo ihre Silhouette zuhinterst im Heck kaum mehr zu ahnen war. Deutlich wurde nur, wie ihr Rücken, während der Bootsherr mit seiner Geschichte fortfuhr, nicht aufhörte zu zucken. Weinte sie? Lachte sie? Oder fröstelte es sie nur, dort draußen in der Flußnacht? Und bevor ihr Mann – wenn er es war – fortfuhr, zögerte er das lange hinaus, schüttelte den Kopf wie über sich selber, biß sich nicht nur in die Lippen, sondern auch in den Handrücken (einer von uns schrie für ihn Weh), und schlug sich mit der Faust auf den Schädel, so stark, daß er davon beiseitewankte.
    In der Zeit der Getrenntheit voneinander war ihm aufgegangen, daß er sich in sich selber getäuscht hatte. Seine Vorstellung, alle die Male vorher mit einer Frau seien gescheitert wegen seines Berufs, der Ausschließlichkeit verlangte, war falsch gewesen. Er hatte sich etwas vorgemacht in seinem Glauben, mit dem Fahrenlassen seiner Schreiberexistenz vielleicht doch endlich einmal ganz, als ein Ganzer, und auf Dauer, frei zu sein für das Wesen, welches ihm die Träume seit jeher wahrsagten als dasjenige welche. Zwar hielt er diese Träume weiterhin für wahr. Aber sie galten für alle anderen, nur nicht für ihn. Er war, ob mit oder ohne seinen Beruf, für das Alleinsein gemacht. Dieses war ihm nicht etwa bestimmt, es war fast eine Krankheit, er war dem Alleinsein verfallen. Ab wann das so gekommen war? Er konnte es nicht sagen, irgendwann, jedenfalls lange vor dem Schreiberdasein, vielleicht schon damals in der Kindheit, beim Weglaufen vom Großvaterhaus, von der Familie, vom Dorf, hinauf über die steile Wiese zum Fichtenwaldrand, zum Alleinsitzen dort, zum Baumrauschenhören, allein. Und wie hatte er unterwegs nun erkannt, daß er einer aus der Spezies der unabänderlich, unumstößlich, unheilbar, von Natur aus Alleinigen, Alleinseinsidioten, Alleinseinswahnsinnigen war, unabhängig von seinem Schreiben, das ihn, so meinte er, am Wirklichmachen der Träume – andere hätten gesagt, »am Leben« – hinderte, indem es den ganzen Mann forderte? Er hatte das erkannt daran, daß ihm die Frau, die doch, wie keine zuvor, den Träumen und deren Innigkeit, Mann-Frau-Innigkeit, entsprach, in der Abwesenheit mehr und mehr als eine Bedrohung erschienen war. Als Bedrohung wofür? Für sein Alleinsein. Für sein Alleinerleben, überhaupt für ein Erleben, das, mit ihr an der Seite, unmöglich gemacht würde. Von Station zu Station mehr genügte dann schon die bloße Vorstellung, sie sei jetzt mit ihm, oder umgekehrt er

Weitere Kostenlose Bücher