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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Morgen, der Bootsglocke, der übergroßen, mit dem dicken schweren Klöppel, in Wahrheit eine Glocke aus einer der Kirchen weiter im Süden, wo sie nicht mehr gebraucht wurde: alltäglicher Versuch, mit dem bloßen Atem den Klöppel zum Schwingen und die Glocke zum Klingen, einem auch noch so leisen, zu bringen – gelänge das, so hätte das etwas zu bedeuten, etwas in seiner Vorstellung Wichtiges, ja Weltbewegendes – und wieder nichts, sein Morgen- und Aufbruchsatem zu schwach – gerade daß von der Halterung des Klöppels, wie auch sonst bisher am Morgen, ein wohl nur seinem speziellen Gehör vernehmbares kleines Schwirren kam. Und dann noch, vom Morawa-Ufer aus, der Blick über die Schulter auf das ganze Boot, das im Lauf nun schon eines Jahrzehnts seine Domovina, seine kleine Heimat geworden war, mit dem Gedanken – oder war es eine Ahnung? nein, Ahnungen galten ihm weder für die Zukunft noch für die Vergangenheit, sondern einzig für jetzt, für den Augenblick, für die Gegenwart –, mit dem Gedanken also, er werde von dieser Reise nie mehr auf dieses Boot da zurückkehren. War das denn nicht so eine besagte Sekunde, eine zitternde? Und wieder nein: Der Gedanke durchfuhr ihn nicht, machte ihn weder traurig noch tat er ihm weh. Solche Gedanken kamen ihm in der Zwischenzeit tagtäglich, auch wenn er bloß für einen Halbtag seine Einkäufe in Porodin machte, auch wenn er bloß für eine Stunde zum Brennholzsammeln oder wozu immer in den Auwäldern, in der Luka, verschwand; kamen ihm da gleichermaßen wie dann vor dem großen Aufbruch. Blauweißrot leuchtete in seinem Rücken seine Behausung, es schimmerten von Ufer zu Ufer die in der Strömung immerzu hervorpulsenden Schlieren der Morawa, und das konnte wieder einmal sein letzter Blick darauf sein, und – ? Recht so. Meinetwegen.
    Ich war derjenige von seinen Freunden, der als einziger nicht weiter flußauf oder flußab, sondern gleich drüben in Porodin lebte. Mein Hof, eher der meines verstorbenen Vaters, stand da, wenn auch inzwischen kaum mehr bewirtschaftet, und ebenso lag da, außerhalb des Dorfs, mein, beziehungsweise meines Vaters Weinberg, den ich gern bewirtschaftet hätte, wäre er, wären überhaupt alle Liegenschaften jenseits der eng und enger gezogenen Dorfgrenzen nicht seit, na, ihr wißt schon, seit wann, für uns Leute von Porodin nur unter Lebensgefahr zu bearbeiten gewesen. Einzig eine Art Korridor zur Morawa stand uns noch offen. Dort holte ich ihn an dem Aufbruchsmorgen ab, mit dem Traktor, der so einmal etwas zu tun bekam. Der vom Boot, jedenfalls sagte er so, war früher viel Auto gefahren, aber seit seinem Unfall in Alaska, von dem wir ihn bei fast jeder Zusammenkunft mit den immer gleichen Ausdrücken erzählen hörten, nicht mehr. In Hut und langem Mantel, den Koffer auf den Knien, hatte er auf dem Traktor etwas von einem Ausgesiedelten oder Evakuierten, wozu auch paßte, daß er mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, die Flußlandschaft im Blick. Blickte er? Eher nein.
    Ich hatte ihm vorgeschlagen, ihn – der Traktor schien ihn nicht zu stören – nach Velika Plana, jenseits der Morawa, zu bringen, Straßensperren hin, Checkpoints her, und meinetwegen noch weiter, und warum nicht bis Belgrad? Aber er wollte in Porodin den Bus nehmen, den einzigen täglich, den einzigen auch, der aus der Enklave woandershin führte. Den Busbahnhof von früher gab es bei uns nicht mehr, auch keinen Stop oder Halt – wie denn auch, da der Bus ja von nirgendsher ankam, und jeweils bloß so dastand, über Nacht, nachdem er am Vorabend »von draußen« zurückgekehrt war? Sein Standplatz: nicht etwa die Dorfmitte, wo auch immer die hingeraten sein mochte, auch nicht vor der Kirche (die wenigstens war uns belassen worden, mit fast nicht zu erzählenden Zusätzen freilich – davon vielleicht später), sondern in einem Hinterhof, in von Mal zu Mal wechselnden Hinterhöfen. »Städte mit Hinterhöfen«, sagt ihr: »Ja. Eine Dorfgegend mit Hinterhöfen aber, wo gab es denn die?« Es gab sie, dort drüben in dem walachischen Dorf Porodin, wo sich hinter den einstigen Bauernhäusern ein Hof an den anderen reihte, und ein Hinterhof weiter in die Felder vorstoßend als der andere, manche lang wie Güterzüge und breit wie eine Autobahn, teilweise begrünt und durchzogen von Blumenbeeten, zuletzt übergehend in Obstgärten, zu beiden Seiten bestückt mit Kuh-, Schaf-, Hühnerställen, Scheunen, Geräte- und Maschinenschuppen, nur daß das meiste davon nun

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