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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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lang schon brach lag, wie eben auch die Felder noch weiter hinten, oder leerstand, oder ganz zusammengekracht und abgerissen war, die meisten der Hinterhöfe riesige Schuttplätze geworden, zerschrundene, schlammige, hügelige – aber wohin sonst mit unserem Enklavenbus?
    An dem Aufbruchsmorgen, schien mir, hatte sich die ganze Enklave eingefunden auf dem Schuttplatz. Dabei waren da nur wenige Reisende. Wie jedesmal wurde diesen das große Geleit gegeben, nicht nur von den Verwandten, sondern auch von den Nachbarn, den entfernteren eher als den näheren, unmittelbar anwohnenden. Geradezu heiter wirkte die Versammlung auf mich, vielleicht wegen des überdimensionierten, in einen Anhänger verstauten Gepäcks, weniger Taschen und Koffer als Kisten, bei denen ich mir vorstellte, darin seien Utensilien für die Nummern eines fahrenden Zirkus. Dazu wurden Betten, Schränke, Spiegel verladen, mehr mit dem Anschein von Raff- als von Erbgut (zu erben war bei uns, jedenfalls von der Art, schon lange nichts mehr, war nie etwas gewesen). Schneeflecken musterten den Hinterhof, also mußte es damals wohl Winter gewesen sein, Winteranfang oder -ende?, das konnte man in unsrer Gegend nie genau sagen. So dicht war das Gedränge, daß diese Flecken augenblicks festgestampft wurden, samt den Spuren der Tauben und Spatzen aus der Stunde davor, als der Hof noch nicht als Busbahnhof gedient hatte. »Und trotzdem waren da und dort Fragmente der Vogelzehen zu sehen«, mischte sich der Autor-in-Ruhe in mein Erzählen ein. »Autor in Ruhe?« Wer fragte das? Auch er hätte es fragen können.
    Keiner der paar Fahrgäste hatte es eilig, in den Bus zu steigen, dessen Motor, wie immer, wohl seit dem ersten Hahnenschrei schon lief – würde er abgestellt, käme er an diesem Tag nicht mehr in Gang, wenigstens nicht bis zum späten Nachmittag, und dann: keine Reise mehr heute, in der Dunkelheit war die Fahrt mit dem Bus, dem Enklavenbus, noch ganz anders gefährlich als bei Tag, selbst unter Polizeischutz. Was für einen Krach unser Bus doch machte dort auf dem Schuttplatz (und wie schwarz der Rauch aus dem Auspuff, der seinem Namen alle Ehre machte, »und mehr noch«, wieder mischte der ehemalige Autor sich ein, »eurem balkanesischen Lehnwort, dem auspuh « ). Es war das ein Krach, der noch und noch andere Kräche miteinbezog oder mitinbegriff, das Knattern und Klappern der schlecht schließenden, eingerosteten Türen, das Klirren, wie kurz vor dem Zersplittern, all der in der Regel sternförmig angebrochenen oder nur noch locker in den Rahmen steckenden Scheiben, das Aufeinanderknallen der Habseligkeiten in dem Anhänger. Dazu kam der Krach von den aufeinander einschreienden, durcheinanderschreienden Enklavenleuten, beziehungsweise der Lärm, beziehungsweise das Getöse. (Von meiner Gastarbeiterzeit sind mir ein paar solcher Lieblingswörter geblieben, wie eben »beziehungsweise«, auch »nichtsdestoweniger«, »freilich« – dieses von meinem Freund übernommen –, »inbegriffen«, »wie auch immer«, »brutto«, »lichte Weite«, »offenbar«.)
    Solcher Krach kümmerte den Ehemaligen offenbar nicht. Er schien ihn sogar noch zu suchen. Wie sonst wäre er mitten in dem Gedränge geblieben, so wenig in Einstiegseile wie alle anderen? Nicht oft habe ich seine Augen leuchten sehen, mit der Zeit immer seltener. Da aber leuchteten sie. Dabei kamen aus der Menge keinerlei, wie auch immer, Freudenschreie. Das waren keine Jauchzer (»Juchzer«, variierte der Bootsherr). Die Leute waren gezwungen zum Schreien, um sich in dem allmählich steigernden Abschiedslärm, in Wirklichkeit bei jedem zweiten, wenigstens dritten ein Geheul, verständlich zu machen. Ja, es wurde, da und dort, lauthals geredet, gebrüllt, gegellt. Doch der Grundton, wenn lauthals, dann anders lauthals, war ein Weinen, und alles durchdringend, dabei gar nicht lauthals, je stiller, desto durchdringender, das Weinen der Kinder. Und beim näheren Hinschauen wurde außerdem offenbar, daß nicht wenige in der Menschenmenge, ja vielleicht sogar die Mehrheit, weder schrien noch weinten, sondern stumm waren, nicht nur jetzt für den Augenblick, schon seit längerem, und so stumm auch noch länger bleiben würden.
    Woher nur die leuchtenden Augen? Hier war es in jener Nacht auf dem Morawa-Boot, daß an meiner, des Enklaven-Einheimischen, Stelle der Gastgeber weitererzählte. (Was mich anging, so ergänzte ich dann nur noch mit ein paar Bemerkungen die Erzählung von der endlichen Abfahrt.)

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