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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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weit weg von ihnen lebte, sei es, daß sie ihn vergessen hatten, oder warum auch immer. Zuzusetzen? Ja, indem die Frau sich in seine Träume einmischte und dort zur Hauptperson wurde.
    Und das schaffte sie dadurch, daß sie von den Briefen überwechselte zu den Zeichen. Ein anderer Autor, ah, lang war das her, hatte ihm einmal erzählt, die liebsten Leserbriefe seien für ihn die bloßen Zeichen. Oder nein, seine bevorzugten Besucher seien jene, die nichts als Zeichen hinterließen, im gehörigen Abstand zu seinem Haus: eine Vogelfeder an der Hecke des Wegs, der bei ihm vorbeiführte; ein von dem Leser unterwegs geschnitzter Hasel- oder Weißdornstock, der ebendort lehnte; eine Flasche Wein; ein Sack mit Nüssen. Doch die Zeichen der fraglichen Frau waren ganz und gar keine lieben. An sich, bei Tageslicht betrachtet, waren es vielleicht Kleinigkeiten, ein totes Igeljunge an der Schwelle zur Gangway, ein Vogeljunges gespießt auf einen Akaziendorn, eine Schlange im Einweckglas zwischen den Essiggurken, eins seiner Bücher – nach eigenem Befinden ohnehin ein danebengeratenes – in Jauche getaucht und die Seiten von Mist verklebt, oder bloß ein paar geköpfte Flußuferblumen, auch nur eine einzige, kleinwinzige. Allerdings wuchsen diese Kleinigkeiten im Traum, mit der Unbekannten als dessen Beherrscherin, sich zu etwas ganz anderem aus.
    Woher wußte er überhaupt, daß es sich um eine Frau handelte, war doch keiner der Briefe, geschrieben in einer klaren, entschiedenen Schrift, je unterzeichnet gewesen? Er wußte es, ebenso wie jener andere Autor, ob Sack mit Nüssen oder Vogelfeder, sofort wußte, welches Geschenk von einem Leser, welches von einer Leserin stammte. Und hatte er auch eine Vorstellung von ihrem Aussehen? (Ein vorlauter Dazwischenrufer.) »In einem Traum ist mir ihr Gesicht ganz deutlich geworden.« – »Und wie war es?« – »Ganz und gar nicht so häßlich wie die Frau, die Leserin, in der Geschichte von Stephen King, glaube ich, die den Autor, der ihr zufällig in die Hände fällt, zur Geisel nimmt und zuletzt umbringen will. Irgendwie schön. Eigentlich schön. Direkt schön.«
    Flucht? Hm. Es war wohl doch übertrieben, seinen Aufbruch zu der Rundreise als »Flucht« zu bezeichnen. Er hatte, eines Tages oder eines Nachts, von all den bösen oder miesen Zeichen vor, hinter, neben, an, auf, unter seinem Morawa-Hausboot schlicht genug. Er wollte atmen. Im übrigen war die Reise schon lange geplant, und so ein Umzingeltsein hatte vielleicht für den entscheidenden Anstoß gesorgt. Wenn also nicht Flucht, dann zumindest ein Kleinbeigeben, das, so schmeichelte ihm einer von uns, »gar nicht zu dir paßt«? Nein. Er wollte sich ihr ja stellen oder war heiß darauf, die ganze Zeit schon, umgekehrt sie zu stellen – nur zeigte sich die Person nicht, ließ sich nicht und nicht blicken. Und er spielte mit dem Gedanken, gerade auf der Reise würden sie endlich aufeinandertreffen. Und womit ging er so in Gedanken um? Sie zu töten. Er würde diese Frau töten. Wirklich? Ja, wirklich. Unbedingt. Und warum? Allein deswegen, weil sie ihn durch die Jahre behelligt und verfolgt hatte? Nein. Warum also? Weil – weil sie in einem ihrer Briefe, nein, nicht nur in einem, in allen, seine Mutter beleidigt hatte. Nein, nicht nur beleidigt, sondern in Frage gestellt, nein, bezweifelt, nein, beschmutzt hatte – und dieses Beschmutzen in ihren Zeichen dann noch gesteigert hatte. Er würde die Frau auf seiner Reise stellen und sie töten. Nein, nicht mit eigenen Händen, sondern mit Hilfe eines Killers, einer Killerin, auf Bezahlung. Er, er würde diese Frau nicht anrühren. Zur Hölle mit ihr.
    Einige wenige Stationen waren für die Rundreise im voraus eingeplant. Abgesehen von seiner – eher ungewissen – Teilnahme an dem erwähnten Kongreß oder Symposium, oder was auch, zum Thema »Lärm–Ton–Klang–Stille« (oder so ähnlich) in einem verlassenen Dorf der spanischen Meseta, unweit der von den Römern, lange vor Christus, zerstörten Ureinwohnersiedlung Numancia, war es noch gedacht, daß er bei seinem lange schon kranken Bruder in Kärnten vorbeischaute; daß er in dem einen und dem anderen Nachbardorf ebenso vorbeischaute bei seinen früheren Kollegen Gregor Keuschnig und Filip Kobal, die, im Gegensatz zu ihm, dem Schreiben wie der Autorschaft noch immer nicht abgeschworen hatten; daß er den Herkunftsort seines längst verstorbenen, nie gekannten Vaters im Südharz umzirkelte; daß er jene Adria-Insel

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