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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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nächsten, undsoweiter, wurde das Kiemenatmen abgelöst von einem tieferen, tiefen, einem Atem, für den man keinerlei Luft zu holen brauchte; ein Atem, so tief drinnen im Körper, als ob er dort die Luft von sich aus erzeugte; der nicht von einem selber herrührte.
    Ein Irrtum, das ging ihm jetzt auf, war dann seine Suche nach den weiten Horizonten gewesen. Ein Irrtum? Eine Verirrung. Eine Krankheit, indem er mehr und mehr, Tag um Tag, Stunde um Stunde, und zwar ausschließlich auf sie aus gewesen war, und das nicht erst seit seiner Übersiedlung auf das Boot in das so fremde Land. Keine Suche mehr, eine Sucht. Wie hatte er vergessen können, daß der Große Horizont sich nie von außen, draußen dort, und sei es in noch so ferner Ferne, sehen ließ? Und schon gar nie mit Absicht? Daß er sich höchstens aus einer bestimmten Nähe ergab und dann im Innern verlief und da bleiben konnte oft über die Momente der Nähe weit hinaus, so wie angeblich Goethe gewisse Nachbilder auch noch Monate nach einem Anschauen hinter den geschlossenen Lidern hatte?
    Die Horizonte inmitten der ihn umgebenden Menschenmenge jetzt, in der Form von Leitlinien, durchzuckten sie ihn denn nicht, und war das demnach nicht die erste zitternde Sekunde, bevor er so recht auf dem Weg war? Nein, diese Linien da gingen ganz allmählich auf ihn über, erst eine, dann wieder eine, undsofort, in einem, ah wie sanftem Gleichmaß, als Wellen eines andersstillen Ozeans da in dem balkanischen Binnenland, einem Binnenland, wie es im Buche stand. Weniger das Weinen, auch ohrenbetäubendes Plärren darunter, war es, das ihn die, so sein Wort, »entscheidenden« Horizonte wiederentdecken ließ, als die stillen Wellen, ausgehend von einer unbekannten Schläfenlinie nah seiner Schulter, einer Wangenlinie, einer Nackenlinie. »Es flutete, und das Herz blutete.« (Wir ließen ihm diesen Satz durchgehen, er war sonst eher gegen seine Art.)
    Er war dann der erste, der in den Bus stieg. Dabei hatte er es genauso wenig eilig wie alle die anderen. Das Verzögern, Hinausschieben, Retardieren war (vielleicht in seiner Periode als Autor, da es ihn geradezu drängte, episch und immer epischer zu werden, nach welchem Vorbild? seinem eigenen) so etwas wie seine zweite Natur geworden. Dreimal hatte er mich noch umarmt, ganz von sich aus, etwas Neues bei ihm, und so herzhaft, als umarmte er nicht nur mich allein. Und dann sah ich ihn an einem der Fenster sitzen, wie erwartet einem der angesplitterten, wie erwartet hinten, in der einzigen Reihe, die gegen die Fahrtrichtung zeigte. Er schaute, ebenfalls wie erwartet, unverwandt ins Freie, jedoch weder zu mir her noch hinab auf die Menge, die sich allmählich beruhigte und da und dort ein Lachen und sogar vereinzeltes Singen hören ließ, sondern in eine Richtung des Schuttplatzes, wo ganz offenbar nichts war. Wie vorhersehbar war mein Freund. Und zuletzt, kurz vor der Abfahrt – unversehens, wie so oft die Begebenheiten bei uns auf dem Balkan, ging es los –, geriet er mir noch in den Blick, wie er von seinem Platz aufsprang und alle seine Gewandtaschen, ich erriet das, mechanisch, nach eingefleischter Gewohnheit, nach Papier und Bleistift absuchte – offenbar ohne Erfolg. Ja, wollte er denn doch wieder etwas aufschreiben? Hatte er denn vergessen, daß er einen Hautausschlag bekam, wenn er ein Blatt Papier, vor allem ein leeres, berührte, und sogar schon bei einem bloßen Papierknistern? Daß er sämtliche Bleistifte an Bord zerbrochen und in den Fluß geschmissen hatte?
    Jetzt übernahm der Ex-Autor wieder das Erzählen, für die folgende Nachtstunde ohne eine Zweitstimme, war er doch im Bus und auch geraume Zeit danach ohne Gefährten unterwegs gewesen. Es stimmte: Er hatte sich, unwillkürlich, nach Schreibzeug abgetastet, aber nicht, um etwas aufzuschreiben. Es war der jähe Drang zu zeichnen. Zu zeichnen? Konturen nachzuziehen, sie bloß anzudeuten, oder sie zu verstärken, wo eine Verstärkung sich anbot. Sich anbot? Ja, sich anbot. Oder, nein, die Konturen im Zeichnen überhaupt herauszufinden – schon deswegen wäre ein Photographieren erst gar nicht in Frage gekommen. Ob es ihn drängte, die Leute draußen zu zeichnen? (Er fragte sich das selber.) Die Linien hier eines Backenknochens, dort eines Kinns, dort eines Daumennagels? Und wieder nein: Um die Konturen von Dingen war ihm zu tun, wie seinerzeit in der Kindheit. Aber der Hinterhof, war er nicht, bis auf den Bus, leer? Was gab es da zu zeichnen? Die Lehnen der

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