Die morawische Nacht
Sitze vor ihm, durch die Bank aufgerissen oder aufgeschlitzt? Die Halterungen da für die Aschenbecher, die letzteren sämtlich fehlend?
Und noch einmal nein: Der Schuttplatz zeigte sich auf einmal doch nicht so leer, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte. Der Steinblock, der riesige, im hintersten Winkel des ehemaligen Anwesens war in Wirklichkeit das letzte ganzgebliebene Überbleibsel der Hofbauten, der Schuppen, der Ställe, der Scheunen, der Weinkeller – die Bude, wo einst der einheimische Schnaps gebrannt worden war. Der Steinblock bildete eine aus dem Schutt ragende Kuppel, die den Einschlupf zu einem Hohlraum freiließ, in dem gerade Platz war für die Destillieranlage und, wie konnte das bei euch auf dem Balkan auch anders sein?, eine Sitzbank, eine kurze, schmale, aber eben eine Sitzbank.
Der Bunker, als solchen sah er den gehöhlten Block dort, stand ohne den gläsernen Riesenbauch mit dem klaren Schnaps darin. Doch die Sitzbank war immer noch an ihrem Platz, höchstens vielleicht ein wenig verschoben. Diese Bank, und mit ihr die Steinkuppel, sie verlangten, gezeichnet oder eben konturiert zu werden, und wenn auch nur mit dem letzten Stummel von einem Stift, umso besser so, und wenn auch bloß auf die Rückseite eines Kassenzettels, umso besser so. Und da sich eben weder das eine noch das andere fand, zeichnete er die Konturen, nein, nicht auf die Busscheibe, sondern in die Luft. Entrückt spürte er sich, wußte er sich, angesichts der Bank in der früheren Schnapsbrandhöhle, die von dem Frühmorgenlicht schimmerte. Entrückt? Gab es das denn heutigentags noch?
Entrückung, das hieß freilich nicht Entwirklichung. So entrückt zu werden, hieß nicht, der Welt, oder meinetwegen der Gegenwart, abhanden zu kommen. Wie real alles, alles?, ja alles erschien in dieser Entrückung, nicht die Sitzbank allein, nicht das Gehäuse allein. Da war es. Das ist es. Das wird es gewesen sein. Solche Entrücktheit, sie rückte die Dinge an ihren Platz. Auch die Leute? Das war eine ganz andere Frage, nicht zu beantworten, oder höchstens bei einer allgemeinen Entrücktheit, in einer anderen Zeit. So oder so hätte er einen Satz aus seiner Aufschreibepoche variieren oder korrigieren mögen: »Nur versunken sehe ich, was die Welt ist«? – »Nur entrückt sehe ich, was die Welt ist.« Würde vielleicht das nun sein neuer Beruf werden?
Einen, wenn auch unmeßbaren, Augenblick lang dauerte das. Aber der genügte, und die Steinhöhle mit der Sitzbank bevölkerte sich. Nicht etwa leibhaftige Menschen nahmen dort ihre Plätze ein, jedenfalls nicht die verschwundenen, nicht die von früher. Menschenmöglichkeiten eher waren es, die die Leerkuppel durchwirkten, ein sozusagen, nein, nicht »sozusagen«, virtuelles, dabei doch so winziges, kaum für zwei, drei Platz bietendes Versammlungslokal, ein mögliches Miteinander, das nichts zu schaffen hatte mit seiner vergangenen Bestimmung, dem Zusammenhocken und Rakijakosten – oder vielleicht doch auch, neben dem und jenem, wer von euch würde etwas dagegen haben? Jedenfalls war in dem Augenblick kein Schnaps zu riechen. Keine Lieder schollen aus der Höhle wie aus der Tiefe der Jahre, und keine bäurischen Gestalten feierten da frisch und farbenprächtig ihre Auferstehung vor irgendwelchen Ikonen wie in der Rückblende eines Films. Das war keine Rückblende, und das waren keine Halluzinationen – in der Entrückung gab es das nicht, vielmehr? Siehe oben. Nichts Dörfliches überdies an dem, ja, Ausschnitt – wie zu diesem denn sonst der Gedanke: »Land in Sicht!« Land? Was für ein Land?
Der rückwärts stoßende Bus. Langsam, langsam, damit der Anhänger nicht ausscherte. Das Motorgeräusch im Rückwärtsgang: einerseits wie drohend, andererseits wie bedroht. (Wenn ihm für seine Rundreise ein durchgehendes Vorhaben im Sinn war, so, auf die Geräusche zu achten, sie zu reflektieren, zu vergleichen, zu übersetzen.) Ruckhaft begann die Fahrt, und das sollte noch eine Zeitlang, besonders für die balkanischen Etappen, so bleiben; Balkan und Ruckhaftigkeit, auch das gehörte für ihn zusammen, und fast fehlte ihm etwas, wenn, wie in Tagen nur auf dem Morawa-Boot, die Rucke ausblieben – nicht freilich, jetzt, in der fraglichen Nacht.
Großes Winken draußen auf dem Schuttplatz, das im Businnern kaum erwidert wurde. Wie noch spärlicher da, im Vergleich zur verabschiedenden Menge, die Passagiere wirkten. Und kein Blick hinaus ins Freie von ihnen; wenn einer schaute, so
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