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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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zusammengehefteten Blättern, die durch die Reihe Zahlentabellen waren.) Im großen Bogen um ihn herum, und daß man um Himmels willen, wie in einer Westernnacht, nicht auf einen dürren Ast träte. Und irgendwo unterwegs war er diesem bestimmten »Hauslosen« schon begegnet. Nur wo?
    Die hintere Mauer dann des früheren Obstgartens: eingefallen. Zwischen den Trümmern durch. Da: das Großvater-, jetzt Bruderhaus, helles Licht in allen Fenstern, kein Urwaldgefunzel mehr, und auf dem Dach die Leuchtschrift, vollzählig die Lettern: GASTHOF ZUM ALTEN DORF. Es war das einzige Anwesen des Alten Dorfs, das die Zeit und die Zeiten überstanden hatte. Und es hatte auch, zumindest von außen gesehen, im großen und ganzen seine erste Gestalt, die eines Bauernhauses, behalten, samt Stalltrakt und dem hölzernen Scheunentrakt darüber, dieser mit einer ebensolchen Galerie, auf der jetzt wie damals oder eben noch die Bahnen der Maiskolben hingen. Selbst die Stallampe darunter war die gleiche, und die weiße Emailkappe, welche die Glühbirne beschirmte, erschien mit Fliegendreck gesprenkelt, auch wenn sie vielleicht rein weiß war. Von den anderen Anwesen keine Spur mehr. Das vom Bruder in einen Gasthof umgewandelte Bauernhaus alleinstehend, der Gemüsegarten samt der Weinlaube – da war sie, oder? – zum Gastgarten geworden, der Platz des Misthaufens zum Parkplatz. Zu diesem die Zufahrt auch von der in der Zwischenzeit gebauten Autobahn, deren Trasse unweit von dem Haus in den Tunnel durch das Grenzgebirge nach Süden verschwindend, jäh verschluckt so jeweils die Geräusche.
    Er freilich näherte sich, im letzten Licht, auf einem der vielen sich überschneidenden Trampelpfade, die – kein ausgebauter Weg – aus dem Urwald des ehemaligen Fruchtbaumgartens zum Gasthof führten; auch für die Obdachlosen, oder was sie waren, schien der also offenzustehen. Wie hell war das Haus, und wie still. Keine Lastwagen auf dem Parkplatz. Keine Silhouette in all den Fenstern. Ein einzelner Mensch auf der langen Bank neben der zum Eingang gewordenen Stalltür, im Zwielicht von Lampe und Sonnenuntergangsnachbild, verdeckt von einer kleinen Birke ähnlich wie die, die man zu Pfingsten links und rechts der Haustür hinpflanzte. War es etwa schon Pfingsten? Nein. So unbewegt saß die Gestalt, daß sie, während vor ihr die Birkenblätter im Abendwind flitterten, übergegangen erschien in das Bäumchen, als dessen Verstärkung und menschlicher Schutzpatron, während ihrerseits die Birke, fütternd und fütternd, den Menschen da seiner Zeit und seiner Geschichte zu entheben schien, auch sie zu seiner Verstärkung und als sein Schutzbaum. Wer saß da? Doch wohl nicht sie? Laß es nicht sie sein – oder doch? Es war nicht sie, es war sein Bruder. Der Hund, der den Wanderer taglang verfolgt hatte, überholte ihn endlich, wobei aus seinem ständigen Knurren ein Freudenbellen wurde, dem Hofbanksitzer geltend, dem er auf die Knie sprang; im Gegenzug freilich – los fuhr er auf den Ankömmling. Kein bloßes Drohen mehr, ein Wutgebrüll, zubeißbereit: Der Heimathund erkannte ihn selbst vor dem Geburtshaus nicht, wollte ihn nicht erkennen.
    Und auch der Bruder erkannte ihn nicht. Fehlte nur, daß er den Hund auf ihn gehetzt hätte? Nein, so etwas tat sein Bruder nicht; er rief das Tier selbstverständlich zurück. War der Wanderer denn über Nacht derart unkenntlich geworden? Er stand doch dem Sitzenden gegenüber, hatte ihn gegrüßt, hatte seine Stimme hören lassen. Gruß zurück, gerichtet freilich an einen Fremden. War denn auch seine Stimme über Nacht eine andere geworden? Mußte er denn dem Bruder ausdrücklich sagen, wer da vor ihm stand? »Siehst du es denn nicht? So hör doch: Ich bin es!«? Das kam nicht in Frage. Ein Erklären, oder gar seine Identität zu beweisen, indem man zum Beispiel dem anderen den Paß oder sonst etwas vor die Augen hielte, oder den Bruder mit dem Namen anriefe, der allein zwischen ihnen beiden gegolten hatte, oder das Losungswort fallenließe, das seit je nur ihnen beiden geläufige: das würde die Sekunde des Wiedersehens nach den langen Jahren der Abwesenheit verderben, würde ihr den Atem abschnüren, und über die Sekunde hinaus wohl auch dem ganzen Kapitel des Wiedersehens. Wie den Bruder also draufkommen lassen, wer da vor ihm stand, ohne geradewegs sich zu eröffnen, aber auch ohne ein Ratespiel (es war nicht der Moment für überhaupt ein Spiel)? Inspiration, existierte die? Zu seinem Wortschatz hatte die

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