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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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einer unausgesetzten, ununterscheidbaren Lärmfolter im Schädel, war er imstande, die Geräusche in sich zu vereinzeln und auseinanderzuhalten. Er lauschte ihnen zugleich, als würden sie ihm zugesandt aus der Ferne, einer, bei welcher Inneres und Äußeres zusammenfiel. Und das Übersetzen der Geräusche, simultan, in Worte, in Sätze, in Hör- und Sprachbilder machte ihn in den Augen der Leute von Neu-Samarkand zum Medium, oder eben zum Orakelsprecher, und das war auch sein Beruf, den er ausübte mit einer selbstverständlichen Würde, unnahbar, ohne ein Lächeln, oder höchstens eines des Vergnügens an seinen Übersetzungen und deren Weitergeben an die Runde.
    Was für Orakelsprüche waren das: Eindeutiges kam ja von vorneherein nicht in Frage, aber auch klassisch zweideutig oder gar vieldeutig hörten sie sich nicht an. Deutungslos kamen sie daher, vollkommen undeutbar, einerseits ganze, syntaktisch nach der Regel gebaute Sätze, andrerseits eher sinnlos, und dabei nicht einmal eigens ein Rätsel aufgebend, getragen allein vom Rhythmus des gerade aktuellen Kopfgeräusches und der Stimme des Übersetzers, die aus dem Lauschen kam. Und das schien den um ihn versammelten Befragern ohne Befragen des Orakels zu genügen. Ein jeder nickte zu dem Spruch, den er empfing, wirkte davon, auch noch im nachhinein, beflügelt und suchte gleichsam das Weite, die paar Fernfahrer ebenso wie die Waldbewohner und die aus Samarkand oder sonstwo Zugezogenen. Und der Geräuschinterpret ließ sich jeweils auch bezahlen, besser als ein üblicher Wahrsager.
    Noch später setzte sich der Wahrsager zu dem Wanderer in dessen Nische, ließ ihn nicht aus den Augen und hob dann an, zu dem durch die Scheiben gedämpften Tosen von der Autobahn: »Blaue Augen müssen kein Unglück sein. Entwurzele dich noch mehr, Freund. Es kann nichts schaden, eine Zeitlang auf der anderen Mundseite zu kauen. Ah, alle, die mit den Wurzeln ihrer Herkunft umherfuchteln wie mit Peitschen. Böse Menschen haben nur noch Lieder. Mehr kannst du nicht haben, als das, was du hast. Und manchmal ist es so, daß es nicht so ist. Und einmal war Gott mit den Geduldigen. Die Zeit ist fern. Es ist etwas Seltenes, gerettet zu werden. Könnte man nur verschwinden, denkst du – kann man aber nicht. Das Wort Nacht grunzt tief im Herzen. Und all die Babylonischen Meinungen. Ein Reiz ist kein Reiz. Der Geist geht gleichwohl durch die Finsterstraße, Mensch, und tut einen Freudensprung zum Mund hinaus. Der Teufel kann dir das Licht nicht nehmen. Das sind nicht so schlechte Dinge, wie der Bauer meint. Geh als Fremder. Das Schicksal kommt nie von außen. Jeder ist anders scheu. Viel zu wenig betrachtest du deine Irrtümer. Alles ist Frevel! Und alles zerfranst, und das war das Leben. Und immerzu lacht irgendwo einer. Und wer die Menschen betrachtet, stirbt vor Kummer.«
    Und noch später saßen der Wanderer und sein Bruder in der halbdunklen Wirtsstube allein. Einmal war der Bruder der Taugenichts der Familie gewesen. Und wer war das jetzt? Sie spielten Karten, und wie damals wollte keiner den anderen gewinnen lassen. Damals? »Damals« war auch schon das Gehen auf der Alten Straße, die Ankunft in »Samarkand«, das Stehen auf dem Friedhof, das Durchqueren des verwaldeten Obstgartens. Der Bruder war überall auf der Welt herumgekommen, vom Pipelinebau in Alaska bis zum Schienenverlegen in Mali, und jeder Ort, wo er gewesen war, hatte seinen Namen übertragen auf einen Hügel, einen Bach, einen Weg, einen Wald seiner Gegend hier. Er würde nie mehr einen Schritt wegtun von ihr. Der Steilhang oberhalb des Tunnels, wo vor allem Birken, Farne und dazwischen die besonders roten Erdbeeren wuchsen, hieß bei ihm der Bosnienhang. Das Grasstück zwischen Elternhaus und Urwald war die Virginiawiese. Der Bach, der das Alte Dorf umkurvte, war der Elk Creek, der in den Yukon River, Alaska, mündete. Wo der Hohlweg hinauf in die Vorberge der Alm gelblehmig wurde, ging es weiter zu den Dogon in Mali, Afrika. Der Teich mit den Fröschen gehörte zum Donaudelta. Er hatte auch jahrelang in Arabien gearbeitet, und so hieß bei ihm die ganze heimische Kärntner Talschaft Wadi-al-Jaum, das ist: Tagestal.
    Nach seiner Vorstellung waren die Angehörigen der Sippe, aus welcher er und der Wanderer stammten, von Anbeginn und durch die Generationen verkappte Verrückte, zwar nur leicht, aber … »Wir haben alle einen Huscher«, sagte er wörtlich, »du auch, und ein jeder auf seine Art.« Und was war sein

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