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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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nie gezählt. Wohl aber die »Eingebung«, und dann, wie es ihm in seiner Schreibzeit mit den Wörtern zur Regel geworden war, nicht in dieser Form, der eines Hauptworts, sondern der Form eines Zeitworts: nicht »Eingebung«, sondern »eingeben«, »eingegeben werden«.
    Und so wurde dem Wanderer in dieser Sekunde eingegeben, die Episode zu wiederholen, welche sie beide, sein Bruder und er, aus einer der Erzählungen ihrer Mutter von Kind an mit sich trugen, als einen der bezeichnenden Züge, wenn nicht überhaupt den alle übrigen grundierenden Zug der Geschichte ihrer Familie und ihrer Sippe. Die Episode handelte von jenem jüngsten Bruder der Mutter, der Priester werden sollte, es in dem bischöflichen Knabenseminar vor Heimweh nicht aushielt und nachts auf der Alten Straße heimzu flüchtete. Er kam an vor dem Morgenwerden, wagte sich freilich nicht in das Haus. Das war an einem Samstag, dem Tag, an welchem jede Woche, für den »Tag des Herrn«, der Hof vor dem Haus gekehrt wurde. Hühnerdreck, Kuhfladen, Spreu, oder einfach nur den Erdboden blankfegen, Besenspuren in den Hofsand ziehen. Er nahm noch im Dunkeln den Rutenbesen von der Stallwand und fing zu kehren an. Von dem Besengeräusch draußen im Hof erwachte allmählich das ganze Haus. Ohne nachzuschauen, erkannte man, wer da zurückgekommen war und das Zeichen gab, daß er nicht mehr von daheim weggehen würde, jedenfalls nie mehr freiwillig, und nie mehr so weit weg, und nie mehr für so lange. Immer noch stand da an der früheren Stallwand der Reisigbesen, derselbe, auch wenn es nicht derselbe war. Ihn nehmen. Kehren. Erkanntwerden, schon nach zwei, drei Schwüngen. Lachen, beiderseits. »Ah, du bist das. Blind und taub bin ich. Komm ins Haus, Bruder. Wasch dich, du hast es nötig, du stinkst. Und zieh dir frische Sachen an. Nicht gerade einen Ochsen werde ich für dich schlachten. Auch kein Fest zu deiner Heimkehr geben. Ich weiß ja, daß du morgen weiterziehst. Also tritt ein und bleib über Nacht, in deinem alten Zimmer, in deinem alten Bett, wie du dir das seit langem gewünscht hast, oder?« – »Halbbrüder« waren sie, mit verschiedenen Vätern? »Nur«? Wortklauberei, und nicht bloß für den Moment. Wie alt war doch der Bruder geworden! Und er griff sich zugleich selber in das Gesicht. Wie alt war er selber geworden?
    In der Gaststube, dem ehemaligen Stall, zunächst allein, an dem kleinsten der Tische, in einer Nische. Der Bruder hatte nicht vergessen, wie er gerne saß, und was er gerne aß und trank. Der Hund friedlich zu seinen Füßen. Ketten klirrten, während die Kühe mampften. Fledermäuse kurvten zur offenen Stalltür herein, auch wenn diese geschlossen und keine Stalltür war. Klarer Abend mit dem Mond in einem der Fenster, und auf der hölzernen Galerie im Stockwerk darüber war es hellichter Tag, ein Regen sprühte dort unter das Dach, ein Sommerregen, auf jemanden, der da hockte im Türkensitz, mit einem Buch. Später in der Nacht füllte sich das Lokal: einmal kurz die Augen geschlossen – oder waren sie dem Wanderer zugefallen? –, und schon war es voll, mit den herausgeputzten Waldbewohnern einerseits, mit den Fernfahrern andererseits; dazwischen auch welche aus der Neusiedlung, oder meinetwegen Neu-Samarkand. Nur Männer, da wie dort, und so wenig zu schauen; höchstens, daß die Neusiedler nach ihrer orientalischen Sitte im rechten Winkel zum Tisch saßen und nichts tranken; nicht einmal eine Wasserpfeife rauchten. Doch, eine einzelne Frau war mit ihnen, tief verschleiert, die freilich verkleidet wirkte, in Wahrheit ein Mann, Melchior, der Journalist und Schriftsteller?, welcher sie alle unter dem Tisch photographierte und heimlich ein Tongerät angeschaltet hatte? Laß ihn, er existierte nicht, hatte nie existiert.
    Noch später versammelten sich sämtliche drei Gruppen um einen der Orientalen, den Stubenältesten, der hochaufgerichtet dasaß und einen nach dem andern empfing, als hielte er Hof. Er war so etwas wie das örtliche Orakel, der einem jeden ein paar Worte mitgab, keine Weissagungen, eher Übertragungen, Artikulationen und Bebilderungen von etwas, das gerade, noch sprach- und bildlos, in ihm vor sich ging. Und in ihm ging unablässig etwas vor sich. Und was? Wo andere vielleicht Stimmen hörten, hörte er Geräusche, im Kopf, in den Ohren, ständig wechselnde, Geräusche, die nichts zu tun hatten mit denen der Gaststube oder der Küche, und wo andere unter diesen Geräuschen vielleicht gelitten hätten, als

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