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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Huscher? Viel hätte der Bruder dazu vorbringen können, beließ es dann aber bei einer harmlosen Spielart: Er glaubte sämtliche Orte des Planeten, wo er jemals gewesen war, in sich gespeichert – nicht im Gedächtnis, sondern im Körper. Die von ihm im Lauf seines Wanderarbeiterlebens erfahrene Welt war samt ihren Teileinheiten, auch den kaum oder nur flüchtig wahrgenommenen, auch den geringfügigsten, sich ihm an Ort und Stelle gar nicht einprägenden, auf ihn übergegangen. Die Orte seiner Vergangenheit hatten sich verbunden mit seinem Fleisch und Blut. Keine Körperstelle an ihm, zu der nicht ein Ort gehörte. Keine Zelle, so seine Überzeugung, die nicht einen Ortsnamen bereithielt. Nur blieben die Orte des Erdkreises und deren Namen in seinen Körperzellen die meiste Zeit im Verborgenen. Sie schliefen. Kamen sie demnach zum Vorschein im Traum? Nicht im Traum, und nicht in der Nacht, sondern ausschließlich bei Tag. Doch dann genügte oft eine einzige Bewegung, und einer der früheren Orte, samt seinem Namen, erwachte in ihm, zum Beispiel im Knie, leuchtete oder blakte dort still auf und war schon wieder gelöscht, konnte freilich noch lange nachflimmern. Er holte etwa mit der Axt aus, und seine Achselhöhle erinnerte ein bestimmtes Dorf am Himalaja. Er stemmte einen Kessel auf den Küchenherd, und eine Stelle in seiner Bauchhöhle verkörperte augenblicklich die bestimmte Autobahnbaracke bei, sagen wir, Regensburg. Er sprang von der Leiter, und seine Ferse, oder seine Hüfte, oder sein Scheitel öffnete sich zu – »na, setz selber einen Ort ein«. Eine verläßliche Methode, alle die Orte in seinem Körper zu wecken, gab es nicht. Er wußte nur, daß ein Strecken helfen konnte, und gleichermaßen eine Bedächtigkeit in den Bewegungen, eine Bewegung schön nach der anderen, »schön langsam« auch, und vor allem, daß die einstigen Orte in seinem Körper nur lebendig wurden, wenn er bei der täglichen Arbeit war – er hatte sie in seinen Zellen freizuarbeiten. Aber wie lebendig sie so im nachhinein werden konnten, in seinem Nacken, zwischen seinen Rippen, in den Schläfen, so lebendig, wie sie im ersten Erleben, dem von außen, nie gewesen waren. »Wenn du wüßtest, in wieviele Gegenden ich allein heute abend, bei der Arbeit in der Küche, da und dort in meinem Körperinnern eingekehrt bin!«
    Noch später in der Nacht geschah nichts, als daß die zwei Brüder schweigend nebeneinander saßen. Wenn einer von beiden seufzte, seufzten zur Antwort die Vorfahren, nur viel stärker. Ein kurzes Ächzen, und die Vorfahren ächzten zurück, und wollten gar nicht mehr aufhören. Ein leises Lachen, und darauf das Gelächter der Vorfahren, und wie: schallend. Und dann ein Schrei aus der Tiefe. Wer stöhnte? Und jedenfalls kam kein Echo, stöhnte niemand zurück. Eine Umarmung in die Luft, ein Halsen ins Leere, wie einst gesehen an einem Kind. Warum konnten sie nicht auf ewig so im Dunkeln still sitzen bleiben?
    Noch später in der Nacht führte der Bruder den Wanderer hinunter in den ehemaligen Apfelkeller, und siehe da, dieser zeigte sich umgestaltet in eine Versammlungsstätte, eine besondere allerdings: War das nicht eine unterirdische Kirche, oder zumindest ein Teilbereich davon? Und hatte es denn nicht immer geheißen, bestätigt auch durch alte Kupferstiche, daß an der Stelle des Sippenanwesens die erste kleine Dorfkirche gestanden war? Ja, das war sie, ihr Altarraum, im Lauf der Jahrhunderte durch den rundherum angehäuften Bauschutt tief unter die Erde geraten. Der Bruder hatte sie eines Tages bei Grabungsarbeiten im Keller entdeckt und insgeheim freigelegt – das Gewölbe des Obstkellers war das einstige Kirchengewölbe gewesen. Und nun diente sie wieder als Gotteshaus, allerdings auch eher insgeheim, nicht offiziell jedenfalls, nirgends angezeigt, eine Art Krypta, oder Katakombe. Manche Fernfahrer – es gab solche – stiegen aus der Gaststube oben zu ihr hinab als zu ihrer Autobahnkirche; manche Alteingesessenen des Dorfs – es gab noch welche, und sie waren des Bruders Stammgäste – psalmodierten an den Feierabenden, bevor sie oben zechten (oder auch nicht), da unten den Rosenkranz und die Marien- und Allerheiligenlitanei; und die Neuzugezogenen aus »Samarkand« benutzten, anfangs wenige, inzwischen mehr und mehr (die der ihnen gar zu sichtbar und großmächtig gewordenen Moschee allmählich überdrüssig geworden waren), den Keller für ihr gemeinsames Freitagsgebet, bei dem sie sich in dem

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