Die morawische Nacht
kleinen Saal, anders als in der Moschee, leicht so eng zusammenstellen konnten, daß zwischen ihnen, wie von ihrer Religion gefordert, kein Raum blieb für das Eindringen des Schaitan, oder des bösen Dämons. Und es kam auch mehr und mehr vor, daß alle die drei Gruppen, die Fernfahrer, die Einheimischen und die Zugezogenen, so wie oben in der Schenke sich unten in der Katakombe zusammenfanden. Und? Nichts sonst. Nichts sonst als der gute Wille, und die Menschen guten Willens. Nicht nur guten, sondern auch eines anderen Willens! Und die Schwellen? Keine. In der Katakombe gab es so etwas nicht oder die Schwellen waren keine Hemmschwellen. Bänke standen an den Wänden, wo einst die Obststellagen gewesen waren, und in der Mauerhöhlung, Ort der Mostfässer einmal, jetzt Apsis und Mihrab, ein langer ovaler Tisch; hell ausgeleuchtet die ganze Krypta unter dem Gasthof, still, ohne einen Ton von der Autobahn, und das Vordringliche dann der Geruch: nach Most und Äpfeln, Äpfeln und Most. Und an einer Stelle dann der Hall unter den Füßen. Es lange da hallen lassen.
Fand der Wanderer, noch später in der Nacht, den Weg oben in sein altes Zimmer? Auch vor diese Tür mußte der Bruder ihn führen. Im Türrahmen – so dick waren die Mauern, daß der Bruder breitbeinig dastand – bekam er von diesem noch zu hören, wie die ganze Familie unten sich gefürchtet hatte, wenn er, damals noch ein Jugendlicher, sich oben in seinem Zimmer an seinem ersten Schreiben versucht hatte. Keinen Mucks hatten sie machen dürfen. Hustete bloß einer von ihnen, oder schrammte ein Stuhl, so brüllte er schon um Ruhe. Und zeitweise brüllte er auch bloß so los, in der Stille, wie gegen sich selber. Gefürchtet hatten sie sich auch vor seinem Anblick, wenn er dann nach Stunden, oft einem ganzen Tag, herunterkam und in das Wohnzimmer, heute die Gaststube, trat: Entweder schoß er da eine Blicksalve los, mit der er sie allesamt ummähen wollte, oder er schaute in die Runde, als bitte er sie nicht nur um Verzeihung, sondern flehte um Gnade, oder starrte mit aufgerissenen Augen ins Leere, als erwartete ihn dort ein Hinrichtungskommando. Selbst wenn er, auch das kam, selten genug, vor, lächelte und, als wäre nichts gewesen, als hätte er nicht gerade noch zu ihren Häupten getobt, ihnen übergangslos das Geschriebene vorlas, sie zum Zuhören zwang – allein die Mutter brauchte nicht gezwungen zu werden –, war er ihnen unheimlich, zumal auch sein Lächeln ein eher bedrohliches war, ein Grinsen, ein schurkisches, wie nach vollbrachter Tat. Gelesen hatte der Bruder späterhin kein einziges seiner Bücher, sie nicht einmal aufgeschlagen. Und trotzdem glaubte er, sie alle zu kennen, jede der langen Geschichten in jeder Einzelheit. Er hatte sie erlebt, und der andere hatte sie aufgeschrieben, wie es, davon war er überzeugt, ihrer beider Wahrheit entsprach, und so brauchte er die Bruderbücher nicht eigens zu lesen. Nicht wenige Bücher standen im Haus, die meisten gelesen, aber keines vom Hausautor, und das war beiden auch selbstverständlich. Und noch einmal kam er vor dem Gutenachtwunsch im Türrahmen auf die Familie zurück: Mit seinen Schreibversuchen habe der Jugendliche seinerzeit nicht bloß das häusliche Leben behindert, sondern darüber hinaus die Familie durcheinander-, wenn nicht auseinandergebracht, und möglicherweise sogar zerstört. Zumindest denke er, es wäre einiges im Haus anders gekommen ohne die anfängliche Schreibtyrannei. Diese habe beigetragen, die Familie zu spalten. Aber nicht darauf wolle er hinaus. Das sei keine Nacht der Abrechnung, und außerdem würde es das letzte Mal sein, daß der andere über Nacht im Haus seiner Vorfahren blieb, in seinem alten Zimmer und Bett. Worauf also? Daß sie beide, die einzig übrigen der Familie, jetzt erst recht, eine Familie waren. Daß überhaupt erst jetzt, mit ihnen beiden allein, von einer Familie die Rede sein konnte. Und was meinte der Bruder mit Familie? Er konnte es nicht sagen. »Familie ist Familie.« Oder doch: »Etwas Schönes … etwas Herzhaftes … etwas Bleibendes … ein Fels in der Brandung, ein gebuckelter … ein Luftschutzkeller … ein Grenzposten, ein unbewaffneter, der zugleich Grenzübergang ist …, ein Kreistanz beim Sitzen still um den Tisch …« – Immer weniger waren sie in der Familie geworden, und immer mehr. Und jetzt, von der ganzen Sippe nur sie zwei übriggeblieben, waren sie am meisten: seltsame Arithmetik wieder.
Wenn der Wanderer sich von der
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