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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Nacht in seinem Geburtshaus etwas erwartet hatte, so traf nichts davon ein. Zuerst setzte er sich auf einen an das Fenster geschobenen Stuhl und bemühte sich, die im Mondlicht daliegende, seit der Kindheit ihm eingeschriebene Landschaft nachzuziehen, wobei ihm fast auf der Stelle die Augen zufielen. Und als er sich zu Bett legte, in der Absicht, so lange er nur könnte, sich bewußt zu machen und zu wiederholen, wo er da war und was er in der Zeitenfolge da nacheinander im einzelnen erlebt, erlitten, getan, unterlassen, anderen angetan und verbrochen hatte, schlief er nicht bloß, kaum rollte er sich wie eh und je unter der Bettdecke zusammen, augenblicks ein, sondern verlor, so kam es ihm vor, das Bewußtsein. Er stürzte weg wie durch eine Falltür, und der Boden samt der Falltür, oder das All, oder was es war, schlug über ihm zusammen, und es gab ihn nicht mehr. Es war dann – nur was hieß »dann«? was »später«? – eine Stimme, die ihn zurückrief in die Gegenwart, in eine andere freilich. Die Stimme war die seiner Mutter. Träumte er? Nein, das war kein Traum, auch wenn er nun schlief, und zwar tief.
    Er hatte für sich gelernt, zu unterscheiden zwischen Traum und Erscheinung. Beide geschahen sie zwar im Schlaf. Aber eine Erscheinung erlebte er grundanders als einen Traum. Die Träume waren ihm sozusagen das Übliche. Sie zeigten sich, sowohl die Nachtmahre als auch die Seligkeitsträume, als Geschehen, als Abläufe, als Nacheinander, in den Überstürzungen wie in den Dehnungen. Die Erscheinungen dagegen kamen als Eingriffe, »urplötzliche, ein Bildeinschuß mitten ins Herz, und waren ebenso urplötzlich wieder verschwunden, aber mit einem ihm eingebrannten Nachbild. Oft träumte er ja von seiner Mutter: daß sie noch lebte, wenn auch immer todmüde, sich abrackernd für ihn und die anderen, zum Umfallen erschöpft, mit Augen gallertig vor Erschöpfung. Erschienen aber war sie ihm ein einziges Mal, und das in den Wochen nach ihrem Tod. Urplötzlich hatte sie ihn da aus der Nacht, der Nacht des Universums – so erlebte er es –, angeflogen, nein, hatte ihn angefallen, mit einem Schlag Besitz von ihm ergriffen und war auch schon wieder zurückgeschnellt in die Finsternis, als ihr Teil. Und was hatte sich dem Schlafenden von der einen monumentalen Sekunde eingeprägt? Einzig das Gesicht der Mutter, vom Dunkel umgeben, und in dem Gesicht die kohlschwarzen Augen (nicht ihre Erdenfarbe), und diese waren gegen ihn, drückten dabei freilich keinen Vorwurf aus und schon gar keinen Fluch: sie waren schlichtweg gegen ihn, wie er war, oder wie er gewesen war, und das aber mit all dem Feuer, das von den sonst sanften Augen der Mutter ausgehen konnte, und noch einem Feuer, darüber hinaus.
    Während der letzten Nacht in seinem Geburtshaus erschien die Mutter dem Schläfer da nicht – sie sprach zu ihm, unsichtbar, ohne Gesicht und ohne Augen. Und sie redete ihn an nicht aus der Dunkelheit: was sie sprach, war begleitet von Licht, oder sorgte für das Licht, oder war höchstselber das Licht. Und sie sagte zu ihrem schlafenden Sohn ungefähr folgendes: »Du mit deinem ewigen Schuldbewußtsein und deinem Schuldsuchen auch bei den anderen. Du bist unschuldig, du dummer Kerl, so unschuldig wie die, die du nach deiner alten, aber nicht angeborenen und nicht vererbten Unsitte in eurer beider Abwesenheit so verdächtigt hast. So wie du auch mich verdächtigt hast: verdächtigt, dich von vornherein verloren zu geben; nicht an dich zu glauben; keine Frau an deiner Seite zu dulden; mich verdächtigt hast, ein unglückliches Leben gelebt zu haben, nur deinen Vater geliebt zu haben, deinen Bruder verachtet zu haben, und nicht die Wahrheit gesagt zu haben, als ich dir schrieb, ich sei ganz glücklich, zu sterben. Hör, Sohn: Ich habe noch mehr Männer geliebt. Ich habe deinen Bruder geliebt, wenn auch auf andere Weise als dich: Wo du mir mutwillig die Tränen hervorgelockt hast, sind mir diese in Gedanken an ihn von selber geflossen. Zwar fürchtete ich dein wie deines Bruders Verlorengehen: Aber das deine konnte ich mir nie so recht vorstellen. Und wenn ich vielleicht auch zeitweise nicht an dich glauben konnte, so hat dich das doch jeweils umso mehr angestachelt, oder etwa nicht? Und es stimmt nicht, daß ich nicht glücklich war, endlich einzuschlafen, so wie es andererseits auch nicht stimmt, daß mein Leben ein unglückliches war. Einige meiner Wünsche sind in Erfüllung gegangen, und mehr habe ich nie erwartet. Und

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