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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Sie hätten zwar wissen können, und wußten es wohl auch, daß es an dem, was geschehen, oder geplant, in Gang gesetzt und durchgeführt worden war, nichts zu rütteln gab. Aber trotzdem hielten diese paar Menschen, oder Leutchen, eigen- oder starrsinnig daran fest, es sei noch dies und das am Geschehenen zurechtzurücken, vor allem unter dem Vorzeichen, der einstige große Zusammenhang sei vielleicht doch weniger ein Zwang als eine mit der Zeit und mit den Generationen gewachsene Zusammengehörigkeit gewesen. Eine Zeitlang hatte der eine oder andere von ihnen sich sogar eingebildet, die Geschichte – die Historie, oder wie das hieß – würde ihm dereinst recht geben. Inzwischen freilich glaubten sie – bis auf einen oder zwei unverbesserlich Geschichtsgläubige unter ihnen – längst nicht mehr an das angeblich entscheidende und letzte Wort der Geschichte, beziehungsweise der Historiker. Oder wenn, dann mußte das entscheidende Wort nicht unbedingt das richtige sein, und die das letzte Wort hatten, sprachen allein deswegen nicht notwendig wahr. War es nicht schon verdächtig, das letzte Wort zu haben? Das letzte Wort, durfte es das überhaupt geben?
    Derartige Spitzfindigkeiten schoben die paar vor, um sich dann und wann zusammenzufinden und ein allerletztes Mal, und darauf noch ein allerallerletztes Mal, undsofort, über das große Land und was mit dem geschehen war, miteinander zu reden. Anfangs waren sie noch eine geradezu stattliche Gruppe gewesen. Mittlerweile kamen nur noch ganz wenige. Der Grund war aber nicht ein Der-Sache-müde-Werden, oder gar ein Umdenken und Einsichtgewinnen – keiner, kein einziger von denen würde je aus freien Stücken von seinen sogenannten Überzeugungen ablassen, seine Vorstellungen auch nur um ein Jota revidieren –, der Grund war ein anderer: das Hinsterben der Gruppenmitglieder, und zwar ein fast auffallend häufiges. Nicht alt wurden in der Regel diese Leute. Dem einen blieb auf offener Straße das Herz stehen. Der andere durchbrach betrunken mit dem Auto ein Brückengeländer, das, von den Bomben zerstört, samt der Brücke gerade wieder neuaufgebaut worden war. Der dritte war in den Bergen verschollen. Auffällig gewaltsam auch manche Tode: Bei einer Frau fing das Kleid – aus Kunstfaser, wie konnte es bei einer Balkanesin anders sein? – an einer brennenden Kerze in einer Kirche, natürlich einer orthodoxen, Feuer, und sie brannte im Nu lichterloh, nicht mehr zu retten. Einer kam ums Leben durch einen lächerlichen kleinen Steinwurf, nicht einmal einen Stein, einen Kiesel, der ihn freilich genau an der Stelle der Schläfe traf, wo … Einer ertrank beim Schwimmen in dem Grenzfluß mit dem berühmten immergrünen Wasser. Nicht wenige Selbstmorde auch, versteht sich. Und wenn sie auch nicht alle gewaltsam umkamen, so doch durch die Reihe jäh; ihr Sterben geschah plötzlich: Herz, Gehirnschlag, Halsschlagader, Ersticken in einem Asthmaanfall … Und die nicht, hast du das gesehen, augenblicks tot umfielen, wurden von einem Moment zum andern wahnsinnig, gleichsam im Kopfumdrehen, genauso, wie es ihnen von allen Seiten ununterbrochen vorhergesagt worden war, und der unter ihnen noch nicht verrückt war, der würde es unausbleiblich bald werden, je lui donne au plus un ou deux ans; in einem, höchstens in zwei Jahren. Ihrer aller Gestörtsein hatte im übrigen damit begonnen, daß sie sich einbildeten, von den Geheimdiensten weltweit überwacht zu werden, nicht bloß vom CIA, sondern auch von Al-Qaida, von der Mossad, undsofort, und die Briefe, die sie einander zukommen ließen, waren zwecks Geheimhaltung dermaßen zugeklebt, daß die Adressaten selber sie oft gar nicht zu öffnen vermochten.
    Seine zeitweiligen Zusammenkünfte nannte das Fähnlein (ohne Fahne) der, je nachdem, paar Aufrechten oder Schiefgewickelten »Konferenzen«, frei nach den »Konferenzen«, den geheimen, der Weltkriegspartisanen in den Wäldern, und es war nicht so sicher, ob diese Namengebung wirklich bloß Teil seines Geselligkeitsspiels war. Denn wie einst die Partisanen wurde ein jeder an seinem Standort verschlüsselt für eine bestimmte Stunde an einen bestimmten Ort bestellt, legte ein jeder den Weg möglichst bei Nacht und Nebel zurück, verkleidet als Holzfäller, als Nachtpilger, Sucher nach einem verirrten Haustier, oder werweißwas, näherte sich dem Konferenzort einzeln, auf Schleichwegen, trug einen Decknamen, wie »Desanka«, »Varvarin«, »Kravica«, »Kolubara«, »Ohrid«. Und

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