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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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einiges Unerwartete ist noch dazugekommen, und eine größere Freude war nie. Niemand in der ganzen Sippe konnte so froh sein wie ich, niemand auch die anderen, außer vielleicht dich, so anstecken mit seiner Freude. Herzefreude, nicht Herzeloyde, du Spielverderber. So steh jetzt auf der Stelle auf und hol die Bestimmte zu dir ins Bett. Die Nacht ist kalt, und sie wartet schon die längste Zeit unter deinem Fenster. Soll sie dir vielleicht ein Ständchen bringen und auf einer Leiter zu dir in die Kammer steigen, du Idiot? Genug der Schuld und genug der Schuldsuche. Genug der Selbstmarter und des Marterns der andern, die doch jeweils die deinigen waren, die deinigen sind. Warum nur marterst du seit jeher nur dich und die deinigen, du Eckensteher, du letzter der Dorftrottel, du hinterletzter Besserwisser und falscher Einfühler. Keine Liebe ohne Erbarmen.«
    So oder ähnlich sprach seine Mutter zu ihm in den Schlaf, und wie sie ihm anbefohlen hatte, geschah es dann auch. Mitten im Tiefschlaf hatte er noch entgegnen wollen, was sie über sich, ihr Leben und ihren Tod berichtigt habe, das stimme ja alles noch weniger als seine Version. Sie habe das bloß so dahergesagt, der Form halber, der Geschichte jetzt halber – aber er brachte, wie immer im Schlaf, kein Wort hervor. Und dann fuhr er auf und hörte in der Tat Geräusche unten im Hof. Nein, ein Besen war das nicht. Es waren Schritte, in der tiefen Nacht, und friedlich waren die, im Kies und im Sand, wie auch von Kies und Sand bestimmt, von diesen geleitet. Und in der Tat fand er die fremde Frau vor der Hoftür – die gar nicht verschlossen war – warum war sie nicht einfach ins Haus getreten? Hatte sie ihn allein mit ihren Schritten herbeirufen wollen? Wie geduldig sie auf- und abging, kreuz und quer unter dem Mond, die Geduld in Person, und ihr Gehen ein Geduldspiel, nach einem unsichtbar in den Sand gezeichneten Muster. Gleichwohl schrak sie bei seinem Kommen zusammen, schützte sich den Kopf, wich zurück, als er mit großen Schritten auf sie, das Wesen, zuging. Er fing sie, es ein; fing sie, es heim – nur James Stewart, Joseph Cotten und Matthias Sindelar hätten das besser gekonnt; trug sie, es auf seinen beiden Armen hinauf in die Kammer – nicht einmal Lancelot und Gawain hätten im Augenblick stärkere Arme gehabt; legte sich dann zu ihr.
    Endlich verstand er sie, so wie sie ihn verstand, und lachte, selten, daß er so lachte, es unterlief ihm auch im Erzählen davon auf dem nächtlichen Boot, nie hätten wir geglaubt, daß unser Gastgeber so lachen konnte, es lachte auch die fremde Frau vom Heck zu uns zurück. Sie hatte dort, jenseits der Berge, ihrerseits in sein Lachen mit eingestimmt, das auch ein Auslachen, ein eher gütiges, war, von Angesicht zu Angesicht, bis daraus ein beiderseitiger Ernst wurde, bis aus diesem ein Zittern wurde, ihrerseits auch eine Nachwirkung der Nacht im Freien, ein beiderseitiges Zittern, bis daß sie nicht mehr zitterten. Und wieder fielen sie miteinander vom Bett vor Müdigkeit, aber nicht nur. Zweistromland.
    Als der Wanderer am folgenden Morgen die Frau dem Hausherrn vorstellte, staunte der keine Sekunde, so als sei er derartiges gewöhnt, von seinem Bruder und von gleichwem. Wenn seine Augen sich kurz wölbten, so war das über den Anblick der Schönheit. Und das Weitere? Er besorgte der Erwählten des Bruders einen Platz in einem Fernlaster. Sie sollte vorausfahren, südostwärts in den Balkan, zu dem Boot an der Morawa, und dies und jenes für die Rückkehr und für das nächtliche Erzählen vorbereiten. Dem Wanderer blieb noch eine Station auf seiner Rundreise durch Europa. Zwar hatte er mit dem Gedanken gespielt, die auszulassen. Aber nein, das kam nicht in Frage, ebensowenig wie bei den vorigen Stationen. Und warum nicht? Er hatte sich, so sehr er sich auch zurücksehnte, in die Enklave und an den Fluß, dem, was ihm vorgeschwebt und sich dann in ihn eingegraben hatte als Route und Ablauf, zu stellen. Abkürzen, Überspringen, Ausweichen hätten der Geschichte nicht Genüge getan. Ah, die Genüge! Und die Frau und er, was stellten sie sich beim neuerlichen Abschied eigentlich für die Zukunft vor? Miteinander zu arbeiten. (Der Zwischenrufer hatte fürs erste keine weitere Frage.)

 
10
     
    Zu der Zeit, da diese Geschichte spielt, waren aus einer anderen Zeit noch ein paar übrig, die der Idee oder dem Hirngespinst von einem zusammenhängenden großen Land auf dem Balkan, in einem anderen Europa, nachhingen.

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