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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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diesen, den ganzen Passagierraum bis zu seinem, des Schülers, Hintersitz fahrtlang vollgeschwätzt hatte, wenn in wechselnder Gestalt, so in der immergleichen Lautstärke und Unentrinnbarkeit. Damals war die Rolle des Drauflosplapperers in der Regel von einer Frau verkörpert worden, heute, aber das mußte nichts Neues sein, von einem Mann, einem dabei schon recht alten. Stimmfall, In-einem-fort-Reden, sogar das Lachen, wo es doch so gar nichts zu lachen gab?, ließen sich jedenfalls hören, nein, drangen und schlugen in die Hörräume ein ebenso jetzt wie seit einer Ewigkeit.
    Daß diese Passagiere ihn hinten, der eher auffällig von Zeit zu Zeit den Kopf nach ihnen wendete, so gar nicht beachteten, daß er für sie nicht existierte: recht so. Nicht recht dagegen war ihm, daß ihr Verhalten dermaßen seiner Vorstellung, oder seinem Willen?, seinem Ideal?, seiner Idee? – seinem, nach all dem gerade Erschauten, epischen Gefühl widersprach. Ah, eure verdammte neubalkanische Unzugänglichkeit, Verschlossenheit, Unansehnlichkeit. Das war doch nicht immer so, oder? Keine schwingenderen Stimmen, keine geöffneteren Augen, keine miteinbeziehenderen Gesten als einmal bei euch. Wo ist euer episches Schauen geblieben, euer episches Kopfwiegen und Kopfrucken, euer episches Aufseufzen? Es mußte ja nicht gerade einer mit der Gusla kommen, auf deren einziger Saite er markerschütternd fiedelte und dazu entsprechend sein jahrhundertealtes tragisches Heldenlied schallen ließe.
    Kein Schild, das anzeigte, wo das Meilen um Meilen, »Werst um Werst«, sich dahinziehende Straßendorf Porodin und damit eine der letzten, gerade noch geduldeten Enklaven Europas seine Grenzen hatte. War das da, wo nicht einmal mehr ein Hund mit dem Bus mitlief? Oder da, wo die ersten der Feldscheunen in Trümmern lagen, wo die ersten Weinberghütten verbrannt, oder zumindest angekohlt waren? Wo, trotz des fruchtbaren Weidelands, weder Schafe noch Kühe mehr Gras rupften, und schon gar keine Schweine, von einem umzäunten Obstgarten zum andern, mehr durch den Schlamm galoppierten? (Obstgärten weiterhin, aber verlassen, und das Obst, ob Vorwinter oder Vorfrühling, allerwärts ungepflückt in den Bäumen.) Wo kein Straßenschild nicht durchsiebt war von Schußlöchern, übermalt mit Totenköpfen, beschriftet mit Drohparolen, in lateinischen, nicht kyrillischen Buchstaben?
    Das vielleicht am stärksten in die Augen springende Anzeichen vom Übergang aus der Enklave in den anderen Bereich: das zweite Polizei- oder Militärpolizeiauto, das sich dem ersten, der Vorhut für den Bus schon in der Dorfmitte, dann weit draußen auf der Magistrale anschloß, als Nachhut, so daß der Bus nun im Konvoi fuhr. (Ab da war es auch, daß er, der Einzelreisende, anfing, die Passagiere und sich selber momentweise als »wir« zu sehen, und in jener Nacht demgemäß auch von »uns« erzählte.) Ganz eindeutig wurde es, daß wir die Gemarke Porodin nun verlassen hatten, als die Abzweigungen von der Magistrale in die Seitenstraßen, ja selbst in die (ehemaligen) Feldwege, blockiert waren von Panzern. Und wo es keine Sperren durch Panzer waren, so durch Rollen eines speziell robusten, anscheinend stahlharten Stacheldrahts, die abwechselten mit aufgebockten Spanischen Reitern. Die Schießrohre der Panzer allesamt ausgefahren, jedoch nicht die weiterhin fastleere Überlandstraße anpeilend, sondern die Hügelkette zur einen, die Flußebene zur anderen Hand – wo die Leere, Menschen- wie sonstige Leere, eine vollständige war. Ständiges Winken aus den Sichtschlitzen der Panzer heraus, das freilich weniger ein Zuwinken als ein Weiterwinken war: »Los. Weiter. Schneller.« Und in der Tat beschleunigte der Konvoi, oder das kam uns bloß so vor.
    Der Ex-Autor hatte da ein Erlebnis, das sich im Verlauf der Rundreise noch dann und wann wiederholen sollte: In die Gegenrichtung zur Fahrt schauend, sah er zugleich den Bus von außen, von einer Ackerfurche aus, mit den Silhouetten des Chauffeurs, der Emigranten und seiner selbst. Sie alle zeigten sich im Profil, und unterschieden sich so kaum voneinander. Auch sich selber sah er so durch die stern- oder spinnennetzförmig angeknackste Scheibe, nur eben als rückwärtsgerichtetes. Und unversehens erschienen dann, weiter im Blick von außen, die Scheiben des Busses bedunstet, ein Dunst, der von innen kam, von ihnen, den Passagieren allen, augenblicklich so stark, daß die Profile zwar nicht völlig verschwanden, aber zu konturlosen

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