Die morawische Nacht
es da für ihn kein Passieren mehr. Aber da geschähe die Abfahrt ohnedies von einem anderen Hinterhof.
Endlich eingebogen in die Magistrale, hätte der Bus, die Straße war leer, ungehindert Fahrt aufnehmen können. Zunächst freilich verlangsamte er eher noch mehr. Einige der Begleiter draußen, nicht bloß Kinder, waren auf das Trittbrett und hinten auf den Anhänger geklettert. Einer erklomm vorne die Kühlerhaube. Ein altertümlicher Bus war das, aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, ein ausgedienter Postomnibus aus Österreich, lang vor der Zeit der automatischen Türen, getönten Scheiben und verstellbaren Sitzlehnen; eine Spende des Nachbarlands nach dem letzten Krieg, mit dem Zeichen des Posthorns des anderen Staats unübermalt an den Flanken, ein aktueller Zusatz nur in der Aufschrift »Porodin«, diese allerdings überdeutlich, und überdies in kyrillischer Schrift: ПОРОДИН .
Dann ein Beschleunigen, von einem Moment zum andern, unvermittelt. Die Trittbrettfahrer und Genossen schienen darauf gefaßt gewesen. Leichtfüßig sprangen und rollten sie zur Seite. Und nicht wenige aus der Menge beschleunigten auch, liefen, rannten, stürmten neben dem Bus her. Eine ganze Strecke brauchte der, bis er sie hinter sich gelassen hatte. Benzinschwaden, die zum Teil auch in den Passagierraum quollen, entzogen die letzten paar Nachrenner den Blicken, wenngleich nicht so vollständig, daß zu übersehen gewesen wäre, wie sie, so rennend und springend, zugleich trauerten, und die ganze Menge, bald schon verschwunden, mit ihnen. Einer schlug, bevor er aufgab, auf dem zersprungenen Asphalt der Straße einen Purzelbaum, und dann einer, bevor auch er, als letzter, stoppte, noch einen Salto mortale (war das nicht der Fußballstar – auch Dörfer, auch Enklaven hatten ihre Stars – von Porodin?). Ja, das gab es: Hochspringen, Purzelbaumschlagen, Salto mortale vor Trauer, eine Sprint- und Springprozession der Trauer. Es war eine wilde Trauer; ein Widerstand, wo jeder Widerstand zwecklos war, und umso unbedingter.
Er war in dem Bus der einzige, der Augen dafür gehabt hatte. Die, um derentwillen es zu einem derartigen Hinterherlaufen gekommen war, beachteten es gar nicht. Sie bissen weiterhin stier in ihre Äpfel, daß es nur so knirschte, quietschte und krachte; steckten sich die Kopfhörer in die Ohren und drehten an ihren Musikgeräten den Ton so hoch, daß, jenseits von Melodie, Gesang oder Instrument, auch jenseits eines irgendwie mitzuerlebenden Rhythmus, nichts als ein Scheppern, alles durchdringend, um sich griff, vor dem nirgends in dem Passagierraum, selbst bei dem Gedröhn des Motors, ein Entkommen war; schlugen, das erste Rätsel gelöst, mit großer Gebärde die Seite um zum nächsten Rätsel; kämmten sich ausführlich; bohrten in der Nase; steckten sich, einer nach dem andern, Zigaretten in den Mund (freilich ohne zu rauchen); drückten in einem fort an ihren Mobiltelefonen herum (nur so zum Zeitvertreib); knabberten an Sonnenblumen- und Kürbiskernen, an den eigenen Nägeln (auch das, seltsam, ein Geräusch, das das des Motors übertönte); und einer steckte sich dann zu der Zigarette noch einen Zahnstocher zwischen die Lippen.
Wie erwartete er doch von ihnen, daß auch sie trauerten. Daß auch sie sich untröstlich gebärdeten, heillos durcheinander. Warum warfen sie sich nicht zu Boden, oder bäuchlings über ihre Sitze, warum schlitzten sie nicht mit den Fingernägeln, statt fort und fort daran zu knabbern, weiter die Lehnen auf, oder trommelten wenigstens mit den Fäusten dagegen? Wie hätte er gewünscht, daß sie ein anderes Personal wären, ein seiner Reise würdiges. Fast hätte er, allein mit einem strafenden Blick, ihnen befohlen, sich zu verhalten, wie es, nach seiner Vorstellung, gedacht war: daß sie, die paar da, die auf immer ihre Ortschaft verließen, einander in die Arme nähmen, auch bloß die Hand auf die des andern legten, ein paar Worte austauschten, meinetwegen nichtssagende, zusammenrückten, sie, die paar da. Doch nein, ein jeder hockte in dem Bus für sich, stumm und stumpf, bis auf den einen vorne auf dem Sitz schräg gegenüber dem Chauffeur. Und was dieser eine, so lauthals wie pausenlos, von sich gab, auch das entsprach so keineswegs dem geforderten Ernst der Stunde, sondern ziemlich genau dem Geplapper jener einen Person, die einst im Kindheitsbus des Ex-Autors, in fast genau so einem wie dem jetzt, Fahrt für Fahrt neben dem Lenker gesessen oder gestanden und nicht nur
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