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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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blicklos. Die meisten aber, kaum saßen sie, waren nur noch mit sich selber beschäftigt, und zwar, auch paarweise oder als Familie, ein jeder völlig für sich, wickelte auf der Stelle sein Eßpaket aus, biß in einen Apfel, setzte eine Flasche an, knabberte an den Fingernägeln, machte sich ans Lösen eines Kreuzworträtsels, eines Sudoku (sogar auf dem Balkan, sogar in Porodin begannen die Tage inzwischen mit den japanischen Zahlenrätseln), einer, ja, sehe ich recht?, schlug gar ein Buch auf – nein, nicht er, der Ehemalige.
    Keinerlei Nachwehen von dem Weinen und Schluchzen gerade noch; nicht einmal ein Schniefen; und so trockene Augen, geradezu übertrocken. Weil niemand blinzelte? Kein Lidschlag zu bemerken war? Oder doch: Bei der einen Person, die in dem Buch las; ein sehr rascher Lidschlag, der ihn, den Betrachter, daran zweifeln ließ, ob der Mensch dort überhaupt las, oder ob das ein wirkliches Lesen war, dasjenige Lesen, das zumindest er als ein solches verstand. Er, er würde nicht lesen, noch nicht. Kein Buch würde er vorderhand lesen, und, ich sage euch, die ganze Zeit unterwegs keine Zeitung: ein anderes durchgehendes Vorhaben, dieses allerdings im Hinblick auf ein Unterlassen. Ein einziges fürs Tun, nicht wenige fürs Unterlassen. Ob er das durchhielt?
    So langsam geschah das Rückstoßen, daß die Menge draußen, vollzählig, als Begleitung neben dem Bus herging. Das setzte sie ebenso dann fort, als der Hinterhof endlich verlassen war, auf der schmalen Seitenstraße, die, an der Kirche von Porodin vorbei, zur großen Durchfahrts- und Überlandstraße führte, auf den alten Karten noch, wie selbst die kümmerlichsten Verbindungslinien dort auf dem Balkan, »Magistrale« geheißen (heute längst nicht mehr). Nicht nur wegen der Enge der Zufahrtsgasse rollte der Bus weiterhin, wenn auch nicht mehr rückwärts, Schritt für Schritt. Es war, vor allem auf der Höhe der Kirche, noch auf anderes zu achten als etwa auf Hauswände, Bäume oder abgestellte Fahrzeuge. In Wahrheit gab es auf diesem Zwischenstück weder Häuser noch Bäume noch Fahrzeuge, und das war auch keine Gasse, vielmehr eine bloße Passage, eine Passage, die erst mit da Durchkurven, dem da besonders ruckhaften, entstand, in einem die Kirche (die, eine Regel dort in der nachpannonischen Tiefebene, so gar nichts von einer Dorfkirche hatte) umgebenden scheinbaren Niemandsland. Scheinbar: denn dieses Niemandsland war ein Friedhof, mit Grabhügeln so klein, daß sie kaum aus dem Gras ragten, die Schilder, wenn es überhaupt welche gab, gerade eine Handbreit über dem Erdboden. Mochte das noch gemäß dem alten Bestattungsbrauch der Morawa-Gegenden sein: keinem alten Brauch entsprach es, daß die Toten mitten im Ort, bei der Kirche, begraben wurden. Seit jeher lagen doch die Friedhöfe hier außerhalb, oft sehr weit außerhalb, manche umgeben von einer Halbwildnis, abseits der letzten Acker und Weiden, nicht selten oben auf einem Hügel, aus der Ebene zu verwechseln mit herausgewitterten Kalkblöcken dort. War das demnach ein neuer Brauch, eingeführt oder einfach so aufgekommen im Zuge der allgemeinen Vereinheitlichung? Nein. Es war aus Not, daß die Gestorbenen von Porodin, statt draußen in einem ehemaligen Weinberg, in der Dorfmitte, um die Basilika herum, begraben wurden. Es war anders nicht möglich. Der alte Friedhof war völlig zerstört, und jeder dort jetzt aufgerichtete Leichenstein wäre schon in der ersten Nacht kurz und klein geschlagen, jeder frische, auch noch so niedrige Grabhügel dem Erdboden gleichgemacht. Und nicht erst seit gestern bestand diese Art Not. Der einzig noch mögliche Bestattungsplatz, das Areal rund um die Kirche, war, mit den Enklavenjahren, drangvoll geworden von Gräbern – wenn Porodin vielleicht ein Dorf war, so ein großes, dichtbevölkertes, ja überbevölkertes, aufgrund der von überall aus den Umgebungen da Hereingeflüchteten, deren, wie sagte man, »Sterberate« beachtlich war. Das scheinbare Grasniemandsland im Dorfzentrum war ein Gräberfeld, mit Leichenhügelchen dicht auf dicht, so daß die dem Bus das Geleit gebende Menge dazwischen durchbalancierte, hakenschlagend, auf den Zehenspitzen mehr kurvend als gehend, mit zum Gleichgewichthalten und Nicht-daneben-Treten erhobenen Armen, was das Bild eines massenhaften Dahintänzelns, eines wie traditionellen Kreistanzens gab. Und entsprechend kurvte auch der Bus im Schrittempo durch die noch freigebliebene Fläche. Vielleicht schon morgen gäbe

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