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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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ihren eingezogenen Köpfen angesichts der Mulde etwas wie ein illegales Grenzüberqueren spüren. Auch wenn sie die Plätze nicht wechselten – oder beim Dorfeingang unten dann doch –, schienen sie zusammenzurücken. Das Kürbiskernknabbern, das Kaugummikauen hörte auf. Oder, bei dem einen oder anderen, es verstärkte sich umgekehrt, so wie auch der Rätsellöser auf einmal hastig wurde und der Buchleser noch heftiger in sein Buch blinzelte. Die Mehrzahl freilich verfiel in ein gemeinsames Innehalten. Und er stand jetzt hinten von seinem Rücksitz auf, rückte nach vorne zu ihnen, hielt inne, mit ihnen zusammen.
    Innehalten, das zugleich ein wie atemanhaltendes Hinausschauen war. Niemand blickte jedoch dann, als der Bus, weiterhin auf dem schmalen Traktorweg sich vortastend, auf der Höhe der Gehöfte oder Forts war, auf deren fensterlose Mauern, auf deren wahrscheinlich wie unzugänglichen Tore, in denen, eins nach dem andern, die Gucklöcher auf- und, womöglich noch schneller, zugeschoben wurden. Der gemeinsame Blick ging, statt in die Nähe – der Bus streifte die Mauern manchmal fast –, in die Zwischenräume zwischen den Gebäuden, jetzt auf die Ruinen dort, die, mit Dorngestrüpp und Unkraut (nicht dem von der nützlichen Art) überwuchert, so schwer zu unterscheiden von dem unebenen Boden, daß sie für ein fremdes Auge als Ruinen erst mit der Fahrt von Lücke zu Lücke erkennbar wurden. (Und die Lücken nahmen zusehends mehr Raum ein, bis dann das Ortsende sich als einzige große Lücke, als einziges, kaum mehr aufspürbares Ruinenfeld erwies.)
    Fremde Augen? Nein, nicht die ihren, die der Mitpassagiere. Sie wußten, was sie da sahen. Und sie sahen ganz anderes, als was da, oft von der Erde verschluckt, vielleicht mehr zu ahnen als noch zu sehen war. Und diese Augen zielten, öfter noch als zu Boden, durch die Zwischenräume hinaus auf das leere Land, die Hänge der Mulde dort, bis hinauf zu den Anhöhen, wo nichts, aber auch gar nichts war. Unten im Ortsbereich kein Mensch sonst im Freien, nicht einmal Tiere, ob Hunde oder Hühner. Oder doch: die Spatzen, die vor dem Bus kreuz und quer schwirrten – ewig beruhigendes Geräusch –, oder, unbekümmert um das schwer dahinpolternde Fahrzeug, sie badeten im Staub, auch in den Schneestellen.
    Das war kein Weg mehr, auf dem der Bus nach dem Abbrechen der Siedlung hügelan fuhr, es war eine Steppe, eine unwegsame, zudem zunehmend steile. Wann würde er endlich einmal zum Stehen kommen? Nein, keine Fragen. Und da stand er, schräg im Trümmerhang, gelb auf graubraun. Alles aussteigen!? Das brauchte gar nicht ausdrücklich gesagt zu werden. Wo sie, und er, fraglos, mit ihnen, bergauf gingen, mußte vor langer Zeit ein Pfad gewesen sein. Von diesem gab es kaum mehr Anzeichen, aber die Selbstverständlichkeit, mit der jeder einzelne in dem Geherpulk quersteppein und -auf seinen Schritt setzte, ließ ihn jetzt nachvollziehen. Der einstige Pfad war demnach in Serpentinen verlaufen, in weit ausschwingenden. Möglich, daß es sich um einen Lastpfad gehandelt hatte, unbelastete Geher wären auf einem kürzeren Weg hinauf zu der Anhöhe gestiegen, in knapperen Schlangenlinien oder schnurstracks, wie es das jene von den Militärpolizisten taten, die den Zug vorne absicherten.
    Absicherten? In der Tat; denn oben angekommen, sahen wir uns dann umgeben von ihnen wie von Wachposten, postiert an den vier Ecken eines leeren Feldes, das ein Plateau bildete, hoch über dem Muldendorf. Maschinenpistolen im Anschlag, die aber wiederum nicht auf uns zielten, sondern von uns weg in sämtliche Himmelsrichtungen; dazu schallte und krachte das Plateau von Sprechfunkgeräten. War da ein Zusammenhang mit den Gestalten, die tief unten nach und nach, in immer rascherer Folge, aus den zuvor wie unbevölkerten, fortähnlichen Gehöften traten, eher schwärmten und sich hügelauf zusammenschlossen, die Vorhut schon bald auf halber Höhe?
    Die Busleute, bis auf ihn, schienen indessen gar nicht zu bemerken, was da um sie vorging. Oder wenn, so hatten sie keine Augen dafür. Augen hatten sie allein für ihr Ziel, und das lag am hinteren Saum des leeren Feldes. Über Stock und Stein hielten sie geradewegs darauf zu, und es war klar, er hatte ihnen auf dem Absatz zu folgen. Warm schien die Sonne aus dem südlich blauen Himmel, fast heiß. Von den trockenen Kräutern, dem wilden Thymian und Rosmarin, stieg unter den Sohlen ein Geruch auf wie im Sommer. Augen nur für ihr Ziel? Und was für

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