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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Augen. Schon unten im Bus, beim Blick auf die Anhöhe, hatten die sich verändert. Es waren das, nach all dem totenähnlichen Stieren zuvor, unversehens die Augen von Lebenden geworden, wie nur je welche, und wenn bloß für ein schnelles, wie heimliches Hinschauen. Und jetzt, im Holpern und Stolpern, wobei zwischendurch auch der eine und der andere hinschlug, auf das Ziel zu, wurde solches Hinschauen ganz unverhohlen und unverwandt; kein Sturz konnte es aus seiner Bahn bringen.
    Was aber war das Ziel? Nein, noch immer fragte er nicht, auch nicht sich selber. Jedenfalls war der Saum des versteppten Feldvierecks, die Schwelle zur Wildnis, ebenso leer wie das ganze Feld, höchstens ein wenig steiniger, wie üblich bei solchen Rändern. Wie auch immer: dieser Saumstreifen war das Ziel. Die Gruppe, bis auf ihn und den mitgekommenen Buschauffeur, hockte sich dort zu Boden, im Kreis um einen Fleck, wo außer Gras, Steinbrocken und Reisig nichts war. Nacheinander wurden aus Akten-, auch Handtaschen und Plastiksäcken Eß- und Trinksachen in den Kreis gestellt, flink und anscheinend routiniert wie bei einem balkanesischen Hütchenspiel. Dann wurden die Sachen, wo nötig, ausgepackt und angeordnet: Kekse und Waffeln aus den Schachteln geschoben, Schokoladeriegel aus dem Stanniol geschält, Käse aus Tüchern oder Papier gewickelt; Äpfel, auch Orangen, ein, zwei Bananen, sogar ein paar selbstgezüchtete Kiwis (so fernab der Welt war die Enklave nicht) kamen einfach so dazu; und von den Getränkeflaschen wurde gerade nur leicht der Verschluß aufgedreht.
    Seltsames Picknick, bei dem alle so hocken blieben, niemand sich setzte, geschweige denn aß oder trank; bei dem, am hellichten Tag, inmitten der Speisen und Getränke, eine Kerze angezündet wurde; bei dem, nachdem lange, schon seit dem Ausstieg aus dem Bus, nein, schon vorher, seit dem Abbiegen von der Magistrale zu dem Dorf, kein Wort mehr gefallen war, unter diesen Auswanderern ein Weinen losbrach, nicht zu vergleichen mit dem der Menge, die ihnen am Morgen das Geleit gegeben hatte: ein Weinen, vor dem man sich auf der Stelle abwenden wollte, ob zum Himmel, oder zur Erde, oder nirgends wohin, nur sich abwenden; für das man sich, ohne eigene Schuld und auch ohne den Drang, sonst jemand zu beschuldigen, verantwortlich fühlte; das einen zur Verantwortung rief.
    Sich von den derart Weinenden abwenden zu wollen, hieß nicht, vor ihnen die Ohren zu schließen, hieß nicht, sich diese Töne nicht, Laut für Laut, einzuprägen und sich von ihnen prägen zu lassen. Hieß nicht, die Leute da, die Nasenbohrer, die Nägelbeißer, die Rülpser von vorher, ihrem Schicksal, oder eher ihrem Nichtschicksal, dem Vergessen, zu überlassen. Oder doch? Oder doch? Das Vergessenwerden, das Überhörtwerden war vielleicht noch das Erträglichste, was den Wimmernden im Leeren da geschehen konnte? Und sie selber wollten es auch so? Nein. Sie wollten nichts, und schon gar nichts von jemandem wie ihm. Sie konnten nichts mehr wollen.
    Während das Weinen fort- und fortging, erzählte ihm der Chauffeur, leise, die dazugehörige Geschichte. Vor dem letzten Krieg damals war das Muldendorf von zwei Völkern bewohnt gewesen, und die im Kreis Hockenden da waren Teil der nach dem Krieg Vertriebenen, der, nennen wir sie hier so, Walachen. Zum ersten Mal seit Kriegsende nun waren welche aus dem einstigen Zweitvolk in ihre Gegend zurückgekehrt, wenn auch nur für den Besuch hier, und das erste Mal würde zugleich das letzte sein. Und hier, das war der Platz ihres früheren Friedhofs. Von diesem keine Spur mehr. Oder doch: die paar dunklerfarbigen, auch marmorierten Steinbrocken zwischen den orts- und balkanüblichen, aus der rötlichen Verwitterungserde sich buckelnden weißen Kalkgupfe. Das waren, laut Chauffeur, die einzigen Überreste eines Grabs, auch die einzigen der gesamten Begräbnisstätte auf dem Plateau hoch über dem längst-und-wohl-für-immer-Ein-Volk-Dorf. Die, hm, Ausgesiedelten und nun tatsächlichen Aussiedler hockten im Abstand zu den Grabsteintrümmern, dort, wo nichts war. Da ungefähr, weiter laut Chauffeur, war einer von ihnen seinerzeit im Krieg Zeuge geworden, wie mehrere Angehörige von Vermummten, plötzlich aus dem Unterholz Gebrochenen, umstellt und verschleppt wurden auf Nimmerwiedersehen. (Er, hinter einem entfernten Grabstein, war unentdeckt geblieben.) Es war das ein Festtag des betreffenden Volkes gewesen, zu dem ein Besuch bei den Toten gehörte, denen man zu essen und zu

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