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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Schemen wurden. Unwillkürlich wischte er mit dem Ärmel den Dunst weg, der, nein, nein keine Einbildung war. Von einem Moment zum nächsten hatten sich die Fenster dick beschlagen. Und er war der einzige, der wischte, und wischte, und wischte – nach jedem Wischen sofort eine neue Dunstschicht.
    Und der Blick dann, wieder über die Schulter, auf seine Mitfahrer: wie starr sie doch saßen, der Eindruck von Starre noch verstärkt durch die früher landes-, inzwischen eher bloß enklavenüblichen, grobgeschnittenen, so ungeschmeidigen schwarzen Lederjacken, gleichermaßen Männer wie Frauen zu Vierecksformen reduzierend. Die Abdrücke von Katzenpfoten hinten auf der einen Jacke dort: war das nun doch eine Einbildung, oder ein Muster, oder stammten sie wirklich von einer Katze, die drübergerannt war? Und auf der zweiten Jacke dort die Hundespuren? Und auf der dritten dort die Spuren der Tatzen eines Wolfs! Aufgesprungen und die Entlüftungsluke oben im Busdach aufgestoßen, Geste, die ihm noch vertraut war von den Fahrten im nämlichen Postbus, als Heranwachsender: wie der Himmel dann blaute nach dem Weichen des Dunstes, welch mildes Blau (das er beim Erzählen umänderte in ein »wildes«). Und wieder erblickte er den Bus mit den inzwischen neu umrissenen Profilen ihrer aller drinnen von dem entfernten Außenstandpunkt aus, und seltsam, was er da unwillkürlich, wörtlich, dachte: »Erbarme dich unser.«
    Eine Seitenstraße dann, eher ein bloßer Weg, ein Traktorfahrweg, der nicht gesperrt war, weder von einem Panzer noch von Drahtrollen. Warum bog der Bus da ein, statt auf der Magistrale weiterzufahren? Niemand freilich, der das ausdrücklich fragte, auch er nicht, so als habe er sich über die Jahre auf dem Balkan das Fragen, das meiste zumindest, abgewöhnt; fast keine Frage, die hierzulande nicht als bloße Fragerei auftrat. Sehr langsam wurde der Bus, rumpelte zwischendurch wieder im Schrittempo, obwohl kein Hindernis sich sehen ließ. Die zunehmend steinige Landschaft, unbepflanzt und ohne Baumwuchs, war weithin leer. Weg ging es von der Flußgegend und der sie durchschneidenden großen Straße, hinauf und hinein in das südliche Hügelland, stetig im Konvoi mit den Polizeiautos, das eine im Abstand voran, gleichsam als Lotse, das andere dichtauf hinterher, die drei Fahrzeuge, von außen betrachtet, in einer einzigen diesigen lehmgelben Staubwolkenbahn, die, trotz aller Langsamkeit, so hoch wie massig in der Unbewohntheit dahinzog, zugleich begrenzt auf den Konvoi, sich um diesen ballend, während ringsum der Luftraum umso klarer blieb. Nein, es waren keine Minen mehr zu befürchten, schon lange nicht mehr. Was unseren Bus so bremste, das waren die vielen, bei der unkultivierten Erde eher rätselhaften Kurven, das war die Enge des Traktorwegs, der, ein Überbleibsel aus den Anbauzeiten, gesäumt war von ehemaligen Wassergräben, wasserlos jetzt, und wenn gefüllt, so mit verrottenden Maschinenteilen, ebensolchen Autobruchstücken, einem Gemisch von Lumpen und Plastiksäcken, Tierkadavern, verwesenden oder schon skelettierten, und dazwischen, nicht selten, ineinander verhakte Grabkreuze, Kränze, zu verwechseln mit wie für eine Hochzeit geschmückten Autoreifen, Reste von Autoantennen mit Schleifen dran, die nun in der Tat von Hochzeitsfeiern stammten, kopfüber versenkte Gummistiefel und, vor allem, Häuser- und Hüttenschutt. Unvermutet – »na, so unvermutet auch wieder nicht«, unterbrach er sich dann in der Morawischen Nacht – etwas wie eine Siedlung. Wenn das ein Dorf war dort unten in der Hügelmulde, so ein grundanderes als Porodin. Nicht allein, daß es als ein Haufen-, kein Straßendorf erschien: Auch die Gebäudeformen waren verschieden, so verschieden, als sei man flugs nicht bloß in ein neues Land, sondern in einen fernen, unbekannten Kontinent geraten. Waren das Gehöfte, oder nicht eher Forts? Wenn Forts, dann nicht umgeben von den klassischen Palisaden, vielmehr von eine jede vorstellbare Palisade an Höhe ziemlich übersteigenden Steinmauern. Das Innere der Forts, indem diese fast als ganze überdacht waren, nicht einsehbar, selbst von der Hügelkuppe aus, wo die Muldensiedlung zuerst in den Blick geriet.
    Ein unbekannter Kontinent, auf den der Buskonvoi, womöglich noch stockender, zurollte? Ja, und überdies, so mutete es zumindest ihn an, den Ortsfremden, ein verbotener. Recht so. Nur nicht fragen. Aber auch die Mitreisenden, die, was das ganze Land da betraf, Einheimischen, ließen an

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