Die morawische Nacht
entsann er sich. Und wie sie auf ihren Lokaltouren beständig auch auf etwas zu warten schien, etwas zu suchen schien. Wie sie herumstöberte, zurechtrückte, und ordnete, Spielkarten zusammenschob, Schachfiguren aufstellte für ein neues Spiel, zerknüllte Toto- und Lottozettel glättete, und noch einmal glättete. Und niemand außer ihm, der sie, die in dem kleinen Saal doch bei weitem die umtriebigste war, im geringsten beachtete. Recht gesehen, gab ihr auch niemand der von ihr Angesprochenen eine Antwort – wenn einer scheinbar zurückredete, so galt das in Wahrheit seinem Tischnachbarn oder einem hinter ihr, am Nachbartisch. Und ihm an der Theke unterlief es dann einmal, daß er sein kaum mehr benütztes Notizbuch hervorzog, wie um nach längst abgetaner Gewohnheit mit all diesen kleinen Begebnissen mitzuschreiben. Heimlich, heimlich, wie ehedem einmal, schlug er es unter dem Thekenvorsprung auf und steckte es dann schleunigst wieder weg; brauchte dazu von dem Blick seiner einstigen Geliebten gar nicht erst gestreift zu werden.
Zuletzt folgte er ihr noch hinaus auf den Hafenplatz, der inzwischen nachmitternächtlich leer war. Seit jeher hatte es ihn gezogen, dem und jenem versteckt nachzugehen, ohne freilich den Drang, ein Geheimnis zu entdecken – einfach so. Wenn dabei etwas wie eine Entdeckung oder gar Entblößung bevorstand, war er eher auf der Stelle umgekehrt. Sich nur nicht anschleichen. Auch nicht beschatten. So verschwand er auch in dieser Nacht augenblicks in einer Seitengasse, als er sah, wie sie, im Aufflammen des Wetterleuchtens, am Ende des Platzes in Mühsal die Stöckelschuhe auszog und sich ebenso, in Gefahr zu fallen, Pantoffeln, sichtlich verfilzte, anlegte, und, das getan, das lange Kleid raffte und in die Hocke ging. Was tun? Denn er wollte ja etwas tun, für sie. Nur wußte er von früher, sozusagen aus seinem früheren Leben, daß, wann immer er etwas für jemanden getan hatte, es danach womöglich noch schlimmer geworden war. Mit seinen guten Taten hatte er bestenfalls das Unheil hinausgezögert. Sich nirgends einmischen. Geschehen lassen. Sein lassen: Das war Teil seines Gesetzes geworden. Und doch. Und doch.
Ein großer Hund folgte ihm auf dem Weg zum Hotel Cordura, derselbe wieder, der bei der Abfahrt von Porodin als letztes Wesen neben dem Bus hergerannt war. Aber der Köter damals war doch viel kleiner gewesen? fragte einer von uns dazwischen. Nein, es war derselbe. Und der Hund und er hielten dann noch vor einem Mauerrelief, aus der Zeit lang vor den venezianischen Flügellöwen. Es war ein ineinander verschlungenes Spiralrelief aus der karolingischen, oder langobardischen oder meinetwegen illyrischen Zeit, oder aus welcher Zeit oder Vorzeit auch immer. Er forderte den Hund auf, ihm die Zeichen zu übersetzen, und das Tier buchstabierte dann ungefähr folgend: »Eine glückliche Liebe, die gibt es nicht, und aus dem Wetterleuchten wird kein Gewitter, und das Wasser im Hafen wird sofort tief, und es ist ein weiter Weg bis Numancia, und du wirst nicht sterben im Frieden, und ihr habt euch geküßt beim Furzen der Rinder, und sie hat einmal nach einer Kirsche geheißen, und der, der in den Himmeln thront, lacht, und der Tau am nächsten Morgen wird salzig sein.« Und zuletzt sprach es aus dem Hund mit der Stimme der Frau, nein, der zarten des Mädchens von einstmals: »Hast du es denn nicht gewußt – hast du es denn bis heute nicht wissen wollen?: Ich habe ein Kind von dir getragen, unter meinem Herzen, und du, du hast es getötet, und mich mit ihm.«
An dieser Stelle der Erzählung von seiner Rundreise durch den Kontinent stockte unser Gastgeber unvermittelt und sprang von seinem Platz auf. Er wendete den Kopf nach allen Seiten in das Nachtdunkel um das Boot und witterte. Ohne etwas zu sagen, einzig mit seinen Gesten und dann Aktionen, schaffte er es, das Gefühl der Gefahr auf uns andere zu übertragen. Obgleich wohl erst mit seinem Aufspringen die Frösche verstummt waren, sorgte er für den Eindruck, das sei schon Augenblicke vorher geschehen. Er legte den Finger auf die Lippen, lief auf den Zehenspitzen ans Morawa-Ufer, löste, mit Hilfe der jungen Unbekannten, die Haltetaue von den Bäumen, stürmte, die Frau wie auf einer Flucht hinter sich herziehend, fast lautlos zurück aufs Boot, das schon dabei war, langsam flußab zu treiben, steuerte, wie mit angehaltenem Atem, worauf auch wir kaum mehr zu atmen wagten, bei ausgeschaltetem Motor, möglichst nah am Ufer, oft
Weitere Kostenlose Bücher