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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Farblosigkeit tiefrot, frostbeulenrot, und die Wangen ohne Falte, glatt, gespannt, glänzend eben wie eine Frostbeule; eine Falte, eine einzige, auf der Stirn, aber beinahe zart, wie schon angeboren, kaum eingegraben, kaum gefurcht, nur leicht angerissen, auch unterbrochen, nicht durchlaufend, wie sie wohl schon als Kind so herumgegangen war.
    Und an dieser Falte erkannte er sie, während sie ihn weiterverfluchte, als noch eine andere wieder. Ja, es war sie, diejenige welche, das Inselmädchen aus dem Sommer seines ersten Buchs. Noch bevor er sich sicher war, kam ihm, von selber, ihr Name – der hier, wie vereinbart, nichts zur Sache tut – über die Lippen, nicht etwa als Frage, sondern als Ausruf. Bevor er in Person es wußte, wußte es das Wort für sie. Und augenblicks hielt sie in ihrem Verfluchen inne und wurde rot im Rot. Ja, sie war es. Und für diese eine Sekunde lang – ja, es war eine lange Sekunde – wurde ihr ganzes Gesicht, und nicht nur in der einen gebrochenen Stirnfalte, kenntlich als das der jungen Frau seinerzeit, ihrerzeit, beiderzeit, sanft und voll Liebreiz. Dann, jäh wie sie zuvor auf ihn losgebrüllt hatte, wandte sie sich ab und verschwand in dem Korso.
    Später in der Nacht fand er sie wieder. Er hatte sie gesucht. Beim Kirchentor war sie nicht. Bloß die Plastiksäcke standen noch da, aber eher wie das Dekor, das vor geraumer Zeit schon benutzte, verlassene, für eine Filmszene. Einer der Säcke war leer und wehte, in dem schwachen Nachtwind, zwischen den Pflastersteinen hin und her. Das Geräusch war, in der Stille rundherum, von einer, kam ihm vor, besonderen Zartheit, und er beschloß, es sich zu merken, für das Symposium über Geräusche in der spanischen Meseta: im Horchen glaubte er sogar eine Art Instrument auszumachen, Töne, auf- und absteigende, Kadenzen. Und er notierte: »Anhörung als Anschauung«.
    Wo er sie dann fand? In einem der Hafenwirtshäuser, und zuerst war er sich gar nicht sicher, ob das noch die Obdachlose von vorhin war. Nicht, daß sie ihm umgewandelt erschien. Aber sie hatte sich doch, nach einem bei ihm zuhause einmal üblichen Ausdruck, herausgeschwanzt. Sie trug ein langes, farbig gemustertes Kleid, das an eine Inseltracht denken ließ, auch wenn es die vielleicht gar nicht gab, und auch die Haare, die ungleichen Teile hinten zusammengeflochten, so daß daraus eine wie klassische Frisur wurde, zeigten ihre mehr oder weniger ursprüngliche Farbe her. Das rote Gesicht, war es weiß überpudert?, oder war das jetzt wieder die Naturblässe, die erinnerte an die ägyptischen Paarstatuen, wo das Gesicht des Mannes jeweils tiefbraun dargestellt war, das der dazugehörigen Frau dagegen schwanenfederweiß?
    Trotzdem war das weiterhin die örtliche Streunerin? Jedenfalls kurvte sie als eine solche in der Gaststätte zwischen den Tischen herum, und wenn sie, eher selten, irgendwo hielt und die Sitzer anredete – er stand zu weit entfernt, etwas zu verstehen –, bot sie den Eindruck einer Heischenden, wenn dabei auch keine ausgestreckte Hand sichtbar wurde. Auf ihren fortgesetzten Rundgängen kam sie immer wieder auch an ihm, an der Theke, vorbei, in einer Salzparfumschwade, beachtete ihn freilich nicht. Sie hatte ihm alles gesagt, was zu sagen war? Er existierte nicht mehr für sie? Und vielleicht hatte sie in ihm gar nicht ihren ersten Mann gesehen, sondern den Abendmeßgänger, der ihr das Gebührende verweigert hatte?
    Er dafür würde sie nicht aus dem Blick lassen in dieser Nachtstunde. Das war seine Pflicht jetzt. Das war seine Schuldigkeit. Ab und zu trat sie an eines der Fenster und schaute, die Hände auf dem Rücken, auf den Quai draußen, und vielleicht noch über diesen hinaus. Das Licht, das in Abständen in den Gastraum blakte, war nicht das eines Leuchtturms. Es kam von einem Wetterleuchten, weit draußen auf dem Meer. Mit der Zeit, sooft die Frau dann an einem der Tische Worte wechselte, nahm sie aus der Distanz den Aspekt der Wirtin an, der Patronin, die abendlang nach dem Rechten sah und sich nach dem allgemeinen Befinden erkundigte. Nur ihn ließ sie dabei aus. Höchstens, daß einmal wie aus weiter Ferne ein Blick kam, ein ziemlich dunkler, der ihn aber eher streifte oder über ihn hinwegging, wobei er sich, in wieder solch einer Sekunde, entsann, wie damals vor ihrem beider erstem Zusammensein ihr Blick, weg von seinen Augen, sich gesenkt hatte, hinab, hinab auf seinen Körper, und wie heiß ihm, dem Jungen, da geworden war, und jetzt? –

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