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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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zwischen dichtem Schilf und Wassergebüsch durch, einige Stein- oder Speerwurf- oder Büchsenlängen weiter und warf, wo das Schilf am dichtesten war, zuletzt einen regelrechten schweren Anker aus, wie nah der offenen See.
    Dort, das Boot versteckt in dem Schilf, zugleich im Abstand vom Ufer, setzte er dann seine Erzählung fort. Ich, der eine von uns, der ihn von Kind auf kannte, hatte ihn schon damals dafür bestaunt, wie er sich darauf verstand, uns anderen Kindern im Dorf Gefahren und brenzlige Situationen zu suggerieren, die es vielleicht gar nicht gab, oder doch? Jedenfalls glaubte er, durch das Phantasieren dann mehr und mehr überzeugt, selber daran, umgekehrt vielleicht angesteckt durch die Angst von uns Zuhörern, die wir jeweils noch vor ihm den bevorstehenden Bombenangriff oder die Rückkehr der Türken, jetzt und jetzt, oder die drohende Überschwemmung (»und jetzt … und jetzt … und jetzt!«) zwischen Gebanntheit und Panik erwarteten. Von seinem Bruder, der um einiges jünger war als er, weiß ich, daß die Gutenachtgeschichten an seinem Bett, immer im Stockfinstern, bei ausgeblasener Petroleumlampe und später ausgeschaltetem Licht, in aller Regel dann umsprangen in eine Art Livereportage von etwas Grauenhaftem, das sich anbahnte und sich näherte aus der Nacht draußen – bis auch der Reporter auf der Bettkante, der vorher noch im Spiel, um den Kleineren zu erschrecken, von Zeit zu Zeit ein Streichholz angerissen hatte, seine Reportage unterbrach und verstummte, starr und steif beide Brüder zuletzt in Erwartung des Untergangs. Gutenachtgeschichten? An keine gute Nacht war danach zu denken, und doch wartete der Bruder am nächsten Abend wieder auf die Stimme aus der Finsternis.
    Ich selber erinnere mich an einen gemeinsamen Weg mit dem späteren Schriftsteller, zur fernen Klosterkirche, glaube ich. Der Weg war eher ein bloßer Fußsteig, der eine Strecke lang durch ein dichtes Buschwerk führte. Ich glaube nicht, daß es im Sommer war; ich kann mich an keine Hitze erinnern. Aber von einem Moment zum andern blieb mein Freund stehen und fing an, von Schlangen zu reden. Allein das Wort, das ihm in den Sinn kam, genügte, und er sah sie schon: »Da! Und da! Und da!« Er zeigte und zeigte, schrie und schrie, und ich sah die Schlangen dann auch. Schlangen überall: nicht nur unten im Gestrüpp krochen sie zuhauf, sondern auch oben in den Zweigen, die den Steg überdachten, züngelten welche, und die Zweige bogen sich von ihnen. Er rannte los, und ich hinter ihm her, und noch im Rennen sah ich, mit ihm, der weiterhin zeigte und schrie, Schlange um Schlange, wie sie von Gebüsch zu Gebüsch sprangen, auf gleicher Höhe mit uns. (Springende Schlangen, das gab es also, nicht nur im Traum.) Zwar waren wir nach dem Tunnel fürs erste in Sicherheit, aber es genügte ein graues Rindenstück im Gras, und dieses setzte sich, »Schau!«, in Bewegung, und wir machten einen Bogen um es herum. Und noch jetzt sehe ich die graue Schlange da, und auch die Schlangen vorher, wie sie durch die Lüfte flitzten: ich habe sie gesehen, ich sehe sie.
    In jener Nacht, lange Jahre danach, auf der Morawa: So viele Gefahren jetzt und hier denkbar, und alle real, und alle zugleich unbestimmt, und keiner von uns wollte sie auch bestimmt haben, oder wenn, dann so, wie es der Bootsherr tat, bevor er weitererzählte: er habe das Boot ins Schilf treiben lassen auf der Flucht vor der Steuerfahndung, der gesamteuropäischen. So wie in der Vorwoche der Tag der Waldmüllsammlung ausgerufen worden sei, so für die Woche jetzt die Nacht der Steuerfahndung, entsprechend dem Film »Die Nacht des Jägers«, wo Robert Mitchum am Ufer eines Flusses unter dem Sternenhimmel dem Boot mit den Kindern auflauert, die er in seine Gewalt bringen will; so sei auch das Morawa-Ufer bestückt mit Abertausenden von nächtlichen paneuropäischen Steuerfahndern.

 
3
     
    Das Symposium über Lärm und Geräusche sollte in einem Kongreßzentrum draußen in der spanischen Steppe stattfinden, am Fuß des Rundhügels, auf dem in der Vorrömerzeit Numancia gestanden hatte. Im Umkreis keine Siedlung sonst, nur ein paar längst aufgegebene Gehöfte. Die Straße zu dem Zentrum war eine bloße Jeeppiste. Von einem »Zentrum« dann keine Spur. Eher glich das Gebäude einem kleineren Rundhügel am Fuße des großen Rundhügels, sozusagen dessen Kind, auch in seiner Mischung aus Fels-, Flechten- und Sandfarbe. Die Bauweise schien in erster Linie als eine Art Tarnung

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