Die morawische Nacht
anderen – von denen am Schluß ein einziger übrigblieb – kamen, jeweils bloß für den Tag, aus der Provinzhauptstadt unten im tief in die Steppe eingeschnittenen Flußtal, bleibend berühmt durch die von Antonio Machado bedichteten Pappeln und Nachtigallen, und zwischenzeitlich auch durch die Fußballmannschaft des FC Numancia. Und wer hatte ihn, wenn er schon nicht als Teilnehmer geladen war, auf die Tagung aufmerksam gemacht? Eben einer der zwei, drei aus dieser Stadt, »nennen wir auch sie ›Numancia‹«, ein Dichter, »noch so einer«, den der Ehemalige von sehr viel früher kannte, als er dort in der Stadt an seiner Prosa saß. Lang, lang war das her.
Symposion? Seltsame Tafelrunde, die drei Tage und drei Nächte währte. (»Währen«, solche Wörter unterliefen ihm, der schon lange fern der aktuellen Sprache lebte.) In die Metropolen hatte es ihn doch gezogen, weg vom ländlichen Balkan. Und jetzt ein womöglich noch größeres Abseits, irgendwo, frei nach einem Ortsnamenpaar einstmals bei ihm daheim, zwischen »Innerer« und »Äußerer Einöde«. Nein: Indem er der Runde zuhörte, wurde er, jeden Tag mehr, Teil einer Metropole, wenn je einer. Das kam weniger daher, daß die Sprecher aus ganz Europa angereist waren. Ein Zentrum, ohne Kongreß, bildeten sie für ihn aus einem anderen Grund. Und außerdem stammten längst nicht alle von ihnen aus Haupt- oder Großstädten. Einer war ein »Schafhirt«, oder stellte sich jedenfalls so vor. Ein anderer bezeichnete sich als Wandermusikant, ein dritter als ehemaliger Kartäusermönch. Der eine, der aus Amerika gekommen war – der einzige aus einem anderen Kontinent –, präsentierte sich als Indianer aus einem Reservat; ob der Navajos oder der Apachen, konnte oder wollte unser Gastgeber nicht sagen.
Der Eindruck einer Metropole dort am Fuß des weltvergessenen Rundhügels von Numancia entstand eher durch die gemeinsamen, einander einmal ergänzenden, einmal widersprechenden Probleme, Unglücks- wie auch Glücksfälle und Abenteuer mit dem Lärm, den Geräuschen, den Tönen, der Stille, von denen die Teilnehmer der Tafelrunde nacheinander und mehr und mehr auch durcheinander berichteten. Der, äußerlich betrachtet, wohl abenteuerlichste Fall war der eines Vorstadtbewohners, der auf einen seiner »Lärmnachbarn«, wie er die nannte, mit der Eisenstange losgegangen war (»ich hätte gut und gern auch auf sieben bis siebzehn andere losgehen können, es sollten obrigkeitlich Lärmscheine ausgestellt werden, wie Waffenscheine«), und den man dafür auf ein Jahr in eine schalldichte Einzelzelle gesperrt hatte. Aber von solcherart Abenteuer wollten der Ex-Autor und, wie er meinte, wir anderen mit ihm nicht ausführlich hören, und schon gar keine Nachbarngeschichten, zumal es kaum wo mehr Nachbarn gab und selbst das Wort, in seiner ersten Bedeutung, außer Gebrauch geraten war.
Das Gemeinsame an den Berichten: Der Lärm, der Krach, das Getöse im Inland und der Lärm im Ausland – da war inzwischen kein Unterschied mehr. Und das galt sowohl für den Pegel als auch für etwas, das die Runde genauso berichtenswert fand, und zwar die Tatsache, daß sie, sie alle im Kreis, außerhalb ihrer Herkunftsländer, im Ausland also, nicht anders lärmempfindlich, lärmkrank, wahnsinnig vor Lärm, totschlagbereit vor Lärm geworden waren. Für den von In- wie von Ausländern gleichermaßen und in gleicher Höhe erzeugten Lärmpegel fanden sie dabei noch eine annähernd gemeinsame Erklärung: Dadurch daß es ja fast nirgends ein Ausland mehr gab und entsprechend keine Grenzen, führten die ehemaligen Ausländer, wo auch immer sie auftraten und außerdem beinah nur noch in Gruppen der Mehrzahl, sich jenseits der früheren Grenzen auf wie bei sich zuhause, nein, in der Regel so, wie sie sich zuhause nur zu allen unheiligen Zeiten aufführten – das mit dem von In- wie von Ausländern gleichermaßen erzeugten Lärm stimmte also nicht ganz. Ah, die Zeiten, als die Italiener, selbst in Gruppen, so still wie aufmerksam durch die fremden Städte gezogen waren, und wenn man sie sprechen hörte: welch zarte Melodie. Ah, die Zeiten, da die Spanier … so wundersam zögernd und gewissenhaft versucht hatten, sich in der und der fremden Sprache zurechtzufinden. Ah, die Zeiten, da die Asiaten … in den fremden Metros noch nicht so lachsackhaft losgelacht oder sich wenigstens beim Lachen die Hand vor den Mund gehalten hatten.
Keine gemeinsame Erklärung dagegen wurde gefunden für die
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