Die morawische Nacht
stauseehaft ausbreitete. Trotz der Verlassenheit der vereinzelten Gehöfte roch es nach Holzfeuer, stark und stärker. Der Geruch kam aus dem Untergrund der verschwundenen, einst jahrlang von den Legionen des Römerreichs belagerten Festung. Sie standen auf einem besonderen Köhlerhaufen. Sie sprachen nicht. Auch Juan Lagunas bewahrte wie selbstverständlich das Schweigen. Ein Hund umkreiste sie, der ihnen schon den ganzen Tag lang gefolgt war, und von dem der Erzähler der Morawischen Nacht dann wollte, es sei wieder derselbe wie in Porodin, am Anfang der Rundreise, gewesen, obwohl der Hund nun kalbsgroß war, mit einem Bauch, der, wie bei einem Dachs, manchmal den Steppenschotter streifte: das Tapsen der Pfoten habe sich angehört genau wie bei dem kleinen Enklavenköter.
Auch der Wind, ohne eigens zu drehen oder umzuspringen, blies jetzt, allmählich, aus einer anderen Zeit. In den Geruch des Holzfeuers mischte sich der von nassen Fellen und saurer Milch. Hinter einer Umzäunung war, für den örtlichen Tourismus, der Versuch einer Nachbildung der vorrömischen Siedlung zu besichtigen – zu dieser Stunde längst geschlossen –, samt den höhlenartigen, mit Ginsterrutenwerk bedachten Hütten und den Gassen, die zugleich die Kanalisationswege vorstellten. Doch das Numancia, das jetzt neu auftauchte, war ein anderes, ganz unabhängig von dem vor- oder nachgestellten. Es gab kein Bild, und ließ sich auch nicht hören: weder ein Töpfeklappern noch etwa ein filmreifes Kriegsgeschrei, noch sonst ein Tamtam. Selbst die Halluzination der Gerüche war im Nu vorbei. Was dieses Numancia bleibend machte, das war dann der Wind gewesen. Mochte der bald wieder am jetzigen Vorabend im Leeren wehen: für ein paar Momente, nein, für eine dann andauernde Sekunde, hatte sich da ein Numancia ausgebuchtet, wie es keine Rekonstruktion und keine Geschichtsschreibung vergegenwärtigen oder habhaft machen konnte. Numancia lebte. Und inwiefern lebte es? Als was? Als jähe Ahnung. Als bleibende Ahnung. Als andere Gegenwart. Wer hatte einmal erkannt, daß Ideen Tatsachen seien und entsprechend betrachtet gehörten? Und waren ebenso die Ahnungen, solche jedenfalls, vielleicht Tatsachen, die man wahrzunehmen hätte in ihrer Körperlichkeit, als lebendige Materie wie nur je eine – als ein besonderes Adernwerk?
Nachtwerden, schnelles – man war doch im Süden. Der Hund, der die beiden auf dem Tumulus weiter umkreiste, fiel in ein Wolfsheulen. Und der Dichter aus Neu-Numancia heulte dann mit. Seinem Nebenmann, seit seinem Aufenthalt vor dem Vierteljahrhundert in der Provinzstadt ein treuer Leser seiner Gedichte, ging da auf, daß diese, ohne auch nur in einem einzigen Vers je einen Namen zu nennen, sämtlich von dem entschwundenen Numancia handelten. Wenn er in einem fort die jetzige Stadt und die heutigen Städte verfluchte und ihnen, ihren Gesetzen wie Menschen, den Untergang wünschte, so beschwor er damit die Vor- oder eher die Andere-Zeit-Siedlung. Was er »Schmerz der Abwesenheit« nannte, in der die »Musik der Ferne« nicht mehr zu hören war, und schuld daran »die Diebe der Illusion«, mit ihrem »Dorn, gespitzt mitten in unsere Venen«, das umschrieb seinen Traum, seine Ahnung, seine Idee von einem anderen, oder andersmöglichen Numancia. Darum betete er. Darum flehte er. Darum heulte Juan hin zu den finstergefallenen Horizonten, so wütend, daß er damit den Hund zum Schweigen brachte. Etwas wie ein Gestank puffte von dem Dichter da weg, der Gestank einer, nein, der Verlassenheit.
Seit jeher hatte der neben ihm, wenn Liebe, so die zu einem, ob wirklich oder vorgestellt, Verlorenen empfunden, und immer in der Einzahl, nie in der Mehrzahl – zu einem einzelnen Verlorenen. Seine Liebe war ohne Ausnahme aus dem Drang gekommen, denjenigen oder diejenige retten zu wollen. Die wenigen Male, da er sich verliebt hatte, waren gleichsam Hand in Hand mit dem Gedanken gegangen: »Diese Frau da will von mir, von mir höchstpersönlich gerettet werden.« Selbst sein Bücherschreiben, in der Zeit, da er sich noch als Autor verstand, war immer wieder mit auf den Weg gebracht worden von dem, ja, Bedürfnis, jemanden retten zu sollen, und eines Tages war ihm auch klar geworden, wie er einmal zu sterben wünschte: entweder am Tisch, mitten im Aufschreiben, oder im Versuch, zum Beispiel jemanden aus einem brennenden Haus oder vor einem Todeskommando zu retten.
An diesem Juan Lagunas schien freilich nichts mehr zu retten, und er schien darauf
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