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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Siege. Aber du bist ein Erzählmann, ein Prosamann. Und als Dichter weissage ich dir, daß du eine Liebesgeschichte schreiben wirst, eine dramatische, eine, wie nur du sie erleben lassen kannst. Ich weiß im übrigen, daß du sie schon schreibst. Und sie muß ja nicht wieder auf einen Revolver zulaufen, dem Liebesflüchtling vor die Brust gehalten an der Felsenküste des Pazifischen Ozeans. Knall und Fall, die können sich auch anders ereignen.«
    Juan Lagunas ließ den Erzähler aussteigen irgendwo in der Stadt. (Zwischenfrage des »Spielverderbers« auf dem Morawa-Schiff: »Vor einem Hotel? Vor dem Bahnhof? Und wo ist denn den ganzen Tag der kleine Koffer geblieben?« – Keine Antwort.) Letzter Blickwechsel, auch mit dem Hund, der sich auf dem freigewordenen Vordersitz breitmachte, als seinem angestammten Platz. Juans Augen: Unverändert erwartend – dann bitter enttäuscht – zuletzt wieder ausdruckslos. Auch dieser Mensch da hatte ihm, bei dem Wiedersehen nach einem Vierteljahrhundert, den seit je so benötigten Existenzgrund nicht besorgt. Den Existenzgrund? Ja. Und daneben, darüber hinaus, den Existenzbeweis. Ja, Existenzgrund wie -beweis konnten ihm, dem Juan Lagunas aus dem verschwundenen Numancia, nur von jemand anderem erbracht werden, ein anderer hatte ihm seine, Juans, Existenz zu begründen und zudem zu beweisen. Und wieder war er von so einem anderen enttäuscht worden.
    Und als er sich zuletzt doch noch einmal nach außenhin hören ließ, bildeten sich die Worte wie ohne seine Stimme, einzig aus einem Flappen der Lippen, so wie es kleine, noch sprechunfähige Kinder tun im Spiel – bloß daß das hier kein Spiel war. Mit Mühe zu entziffern war, was er redete und am Ende von den inzwischen lautlos sich bewegenden Lippen abgelesen werden mußte: »Heim zu meinen Kindern, meinen Anvertrauten, meinen Gespenstern. Nur noch schlafen möchte ich, nackt, ohne Träume und Alpträume, die mich wecken. Einmal habe ich eine Geheimschrift erfunden, und bin in der Stadt hier von einem zum andern gegangen, mit dem Gedanken, es möge einer sie entziffern. Aber niemand konnte sie entziffern. Niemand wollte sie entziffern. Zweimal sind wir beiden einander über die Jahre begegnet, amigo lector. Und ein drittes Mal wird es nicht mehr geben, und wenn, dann auf eine übertragene Weise, in einer grundverschiedenen Sphäre, als deren Musik vielleicht ein weißes Rauschen.«

 
4
     
    Die Prophezeiung des Dichters von Numancia zur »Liebesgeschichte«, das nahm der Erzähler in jener Nacht auf der Morawa voraus, sollte sich im Lauf der Begebenheiten bewahrheiten, als »eine buchstäblich unerhörte Begebenheit«. Doch erst einmal blieb der Ex-Autor auf seiner weiteren Reise für sich allein, und das lange, lange. Und so sollte es für eine Zeit auch sein. Und sollte es auch sein – so dachte und beschloß er –, daß er sich für diese Zeit weiter und weiter von dem im voraus vorgenommenen Hauptziel entfernte, dem tiefen Österreich. Je mehr Horizonte er errichtete zwischen sich und seinem Stammland, desto gegenwärtiger wurde ihm eine um die andere verschwundene Einzelheit dort, woraus sich dann im Umkreis des Hauptziels nicht wenige Einzelzielpunkte anboten. Und er erfuhr dabei zeitweise auch, wie, gleichsam entgegen den Gesetzen der Physik, mit der körperlichen Entfernung die Anziehungskraft der Ziele eher zunahm.
    In dieser Periode hielt er sich kaum wo auf. Und er ließ sich Zeit für Umwege und Ablenkungen. Es ging zwar stetig westwärts, auf den Atlantik zu. Aber er mäanderte, nach dem Vorbild der in gemächlichen Schlangenbewegungen dem Meer zuströmenden Flüsse. Und immer wieder war es ihm auch recht, daß er sich und sein Unterwegssein gefährdete, ohne die Gefahren, solche und solche, eigens zu suchen. Auf Flugzeugflügeln, da, wo diese weniger massiv wurden, gegen die Flügelenden zu, war in der Regel eine Linie für das Wartungspersonal markiert, samt der Legende: »Nicht gehen außerhalb dieser Linie«: Er bewegte sich, womöglich täglich einmal, kurz oder länger, außerhalb. Eine Art Kraft, eine verjüngende, stieß einem zu von solchen wie verbotenen Bewegungen. Und nach gewissen ungesuchten Schreckensmomenten sah man schärfer; oder erfaßte überhaupt, was der Fall war. Und daß er, im Gegensatz zu früherem Unterwegssein, nichts, kein einziges Wort, notierte und sein Schreiberdasein endlich los hatte, trug ihm – obwohl sein Schreiben doch nie zwanghaft geschehen war? ja, obwohl –

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