Die morawische Nacht
auch gar nicht aus zu sein. Und außerdem hatte unser Gastgeber von den Ergebnissen jeweils seiner Rettungsversuche kaum etwas zu erzählen. Wenigstens zog er aber den Heulenden an sich heran und stand dann mit ihm Wange an Wange, bis er still wurde. Nicht bloß kalt war die Haut des verlorenen Dichters, sondern vollkommen leblos. Keine Pore, die etwas ausatmete und der Berührung durch die andere Wange irgendwie antwortete. An eine Indianermaske ließ das denken, wo in den beiden Wangen sich Mäuse hineinfraßen, was einen Menschen darstellen sollte, der »dabei war, seine Seele zu verlieren«. Und trotzdem erwartete diese wie erstorbene Haut, und mit ihr spürbar der ganze Mensch da im Finstern, noch etwas. Er forderte. Er hatte von ihm, dem anderen, noch etwas frei. Und wenn er das bekommen hätte, würde er weiterfordern. Er würde ihn nicht gehen lassen, nie mehr. Und wenn er, der andere, ihn alleinließe, so hieße das Verrat. Es hieße: Du läßt mich also im Stich, wie alle bisher. Und er, im Augenblick noch sein Partner (wie »Partner« in den Western), würde ihn tatsächlich im Stich lassen, kurzerhand, gleich, so wie er es bisher zuletzt mit jedem getan hatte? Er hatte das tun müssen, um sich selber zu retten? Und so würde er es auch diesmal wieder tun?
Es war eine sternlose Nacht geworden. Der Dichter von Numancia gab an, er sei nachtblind, »wie meine Mutter«. Und so stiegen die beiden Arm in Arm von dem Steppenhügel, der Hund ihnen voraus, wie den Weg spurend. Von überall her, nah und fern, ein eintöniges Flöten, eine Art Unken, nur sozusagen eine Tonleiter höher und auch mehr oben aus den Lüften kommend als unten aus etwaigen Wassergräben, wobei jeder der Eintöne einen in die Finsternis sich staffelnden Geräuschhorizont vorstellte. Juan, untergehakt in seinen Begleiter, vollführte unversehens einen Hüpfschritt, und dann noch einen, undsofort, den ganzen Hügelweg hinab. Es wurde ein Tanz, und keiner der Verlorenheit. Und er, der Erzähler, konnte nicht anders, als mit dem jäh übermütigen Dichter mitzutanzen. Ja, der, samt seiner Nachtblindheit, zeigte sich auf einmal guter Dinge. Und es stimmte wohl gar nicht, daß er nur bei sich in der Stadt heimisch war: Er nannte, frei nach den Gerüchen, die von seinen Tanzschritten aufstiegen, die zugehörigen Pflanzen oder Kräuter: »Lavendel«, »Thymian«, »Mohn«, »Blaudistel« … Sein Heulen vorhin auf der Hügelkuppe: Es war jetzt, als habe er damit in Wahrheit eher Energie gesammelt; es eingesetzt zum Sicheinstimmen. »Ah, ihr meine lieben Alpträume«, sagte er dann am Hügelfuß mit einer auf einmal so ruhigen wie ausschwingenden Stimme: »Ihr habt mir bis jetzt noch immer das Leben gerettet, mich im letzten Moment aus dem Todesschlaf geweckt. Alpträume, meine Schutzengel.«
Vor dem unbeleuchteten, für die Woche geschlossenen Kongreßzentrum in der Halbwildnis klimperte Juan Lagunas im Dunkeln mit etwas: seinen Autoschlüsseln. Der einzelne Jeep am Rande der Schotterpiste war also der seine. Er öffnete gleich drei Türen, eine für sich beim Lenkrad, eine für den Erzähler neben sich und die dritte hinten für den großen, inzwischen wieder lautlosen Hund. »Das wird eine Eulenrufnacht heute«, sagte er noch, bevor er den Motor anließ. Wie würde er chauffieren bei seiner Nachtblindheit? Scheinwerfer an, kein Problem. (Aber war er überhaupt nachtblind?)
Auf der Fahrt ins Neue Numancia stellte er dem Nebenmann doch eine Frage – eine, die dieser im Lauf seines Lebens mehr und mehr zu Ohren bekommen hatte: »Schreibst du noch immer?« Sonst war die Antwort jeweils ein »Nein« gewesen, anfangs eines, das ihm ersparte, weiterreden zu müssen – denn es war allen den Fragern ganz selbstverständlich, daß er mit dem Schreiben aufgehört hatte –, später ein wahrheitsgemäßes. Diesmal freilich log er: »Ja, ich schreibe noch immer.« Und sowie das heraus war, der Gedanke: Indem das gesagt ist, habe ich mich auch daran zu halten. Die Lüge war ihm bloß so herausgerutscht – und war das überhaupt ein Lügen, ohne Vorsatz, ohne ein Ziel? Darauf der rasant chauffierende Dichter – kein einziges Fahrzeug auf der Piste sonst unterwegs –: »Noch nie habe ich eine Zeile Prosa geschrieben. Für mich gibt es nur das Gedicht. Mit Beschreibungen, Dialogen, Geschichten habe ich nichts im Sinn, und schon gar nicht mit Handlung, Aktion, Dramatik. Konflikte und Probleme – ja. Aber allein die der Sprache. Dort sind meine einzigen
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