Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
Vom Netzwerk:
zusätzlich ein Gefühl von Freiheit zu, auf der Reise jetzt ungleich mächtiger noch als in der Seßhaftigkeit, selbst auf dem Boot an der Morawa – ein Gefühl der Freiheit als eins des für ihn, wie auch für uns andere, längst oder seit je Allerseltensten, des Glücks.
    Er blieb Wochen um Wochen allein und hatte besondere Augen für die, die auch allein waren, auf andere Weise freilich als er. In, sagen wir, Salamanca verschaute er sich unten am Ufer des Tormes in einen jungen Mann, der dastand in der vollständigen Ausrüstung eines hochalpinen Bergsteigers: am Gürtel hingen ihm gleich mehrere geraffte Kletterseile, dazu, auch sie in der Mehrzahl und in verschiedenen Größen, Felshaken und -ringe, daneben, ebenso, Gesteinshämmer, Eispickel, Taschen- und Stirnlampen … Was weiter da so hing, das überließ der Erzähler der Morawischen Nacht unserer Vorstellung, bis auf den einen Schlüsselbund, prall von vielleicht hundert verschiedenen Schlüsseln. So stand der Mann und schaute auf den Fluß, bewegungslos, stundenlang, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Nichts Beschauliches war aber an ihm. Wachsam war er, auf dem Sprung, die Augen so zugekniffen, daß jeder wissen mußte: Würde sich in seinem Blickfeld, auf dem Wasser oder oben auf der Römischen Brücke, der Ernstfall ereignen – er schösse auf der Stelle los, mitsamt seinen Hämmern, Eisenklammern und Seilen, ob zu einer Erste-Hilfe-Aktion, zum Einschreiten, zum Festnehmen oder zu einem sonstigen Amtshandeln – jedenfalls als das zuständige Organ. Und zuständig war er jedenfalls nicht für die leibhaftigen Leute in seinem Blickfeld, die an ihm Vorbeipassierenden auf der Brücke und auf der Uferpromenade. An ihnen allen blickte er mit seinen verkniffenen Augen, das Kinn vorgeschoben, Stand- wie Sprungbein auf der Lauer, vorbei, zwischen ihnen durch, über sie hinweg. Eingesetzt war er für etwas, das weiter weg passieren würde, viel weiter weg, im Unbestimmten. Und auch nachdem er schließlich doch den Platz gewechselt hatte und mit seiner Ausrüstung, die mit jedem seiner schweren, nein, wuchtigen Schritte im Reigen rund um ihn klirrte und pochte, stadtaufwärts marschiert war, zum nächsten Wachestehen an einer Kreuzung, galt sein, wieder stundenlanges, regloses Ausschauhalten, das eher ein Wittern war, ganz und gar nicht den Autos und gegen Abend zunehmenden Passantenmassen, die ihn im übrigen ebensowenig zu bemerken schienen wie er sie. Einmal aber, als ihm aus einer Eckbar ein Mädchen eine Tasse Kaffee brachte und den Wachmann an der Kreuzung nach seinem Befinden fragte, strahlte der, stumm, »für einen Sekundenbruchteil«, über das ganze Gesicht, worauf er umso einspring- und einschreitbereiter die Augen zusammenkniff, die eine Hand an den Kletterseilen, die andere auf dem wie waffenstarrenden Schlüsselbund.
    In einer Bar von Ciudad Rodrigo wiederum, nah schon der Grenze zu Portugal, konnte unser Erzähler seinen Blick nicht lösen von einem alten Mann, der da, weit weg von den Gästen, dabei selber ein Gast, an einem Hintertisch mehr thronte als saß, trotz der warmen Sonne mit einer Pelzkappe auf dem Kopf. Der Tisch angehäuft mit Schriften, Manuskripten, zu denen, aus einer am Tischbein abgestellten Aktentasche, ständig noch Stapel dazukamen. Schwarze Fliegen, große, umschwirrten den Alten, der, davon unberührt, in seinen Papieren blätterte, notierte, punktierte, jeweils von rechts nach links, als schriebe er arabisch. Sooft er punktierte, jetzt einen Punkt, jetzt zwei, jetzt drei, wurde das, trotz der Stimmen und der Anlockmelodien der Spielautomaten, hörbar durch das ganze Lokal, und er schien da stärker noch in seinem Element als beim, jeweils klein-klein, Buchstabenmalen.
    Wenn er einmal innehielt, so hieß das, er würde nun die Schriften vor ihm, ein Wort, eine Letter, durch eine Lupe inspizieren. Und das währte dann jeweils am längsten. Die Lupe, nicht die goldene oder vergoldete Füllfeder, war sein Hauptinstrument. Nach einer weitausholenden Geste, wobei er den Mantelärmel zeremoniös zurückrutschen ließ, kreiste die Lupe hoch über dem Blatt, bis sie zuletzt auf den fraglichen Kringel oder was auch immer herabfuhr. Mehr und mehr aber ging der alte Mann dann über zum Linieren. Das begann als offenbares Unterstreichen, auch dieses von rechts nach links, und wurde später ein Durchstreichen, erst eines einzelnen Worts, in der Folge einer ganzen Zeile, einer ganzen Seite, mit Kreuz- und Querstrichen, und noch

Weitere Kostenlose Bücher