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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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monumental, hat immer wieder, auf mich übergreifend, mein Innerstes für den Augenblick – denn es war jeweils nur einer – zwar enthoben der Last des eigenen Ich, es zugleich aber, gar spät ging mir das auf, zuinnerst bedroht, und besonders gefährlich in der Zeit meines Schreiberlebens, welches ja, rein instinktiv schon, auf ein beständiges rhythmisches Fort-und-Fort, und sei es noch so klein-klein, je klein-kleiner, desto richtiger, aus sein mußte – auf die Folge und nicht auf die stillstehenden Augenblicke, und seien die noch so monumental. Und obwohl ich nichts mehr aufschreibe, weiß ich mit meinen Entrückungen, an denen ich mit einem Teil meiner selbst doch hänge, weil sie mir weiterhin aus mir heraus und hinein in die Welt, in dich da, in dich dort, helfen, nicht so recht umzuspringen, Recht nur, sowie ich sie nichts als lebe, und beschweige – nicht recht, sowie ich sie euch anderen mitzuteilen wünsche, ein Wunsch, der, ob aufgeschrieben oder nicht, doch weiterhin, euch gegenüber wenigstens, ein sehnlicher bleibt. Entrücktheit? Vernarrtheit? Entrückter oder Narr? Selber Idiot?« Und dann fügte der Bootsherr noch hinzu: »Was mich an meinen Entrückungszuständen am meisten bedenklich stimmt: daß es für mich dabei nichts mehr zu lesen gibt; daß sie das Lesen ersetzen oder sogar erübrigen; daß jenes ›Nimm und lies!‹ durch sie außer Kraft gesetzt ist.«
    Der eine von uns mit den Zwischenfragen zur Alltäglichkeit wollte dann wissen, wo die Episode mit den Stadtrandidioten sich denn ereignet habe und wie dort das Wetter gewesen sei, und bekam ausnahmsweise eine Antwort. Der Stadtrand war hier der von Santiago de Compostela, dessen Zentrum und die von den am Ziel angekommenen Pilgern glänzendglatt-geküßten Heiligenstatuenfüße der Zickzackreisende nicht eigens mied, sondern gar nicht erst in Betracht zog ohne Hintergedanken, und überhaupt gedankenlos, wie er oft unterwegs war oder eher sich treiben ließ, streunte und stromerte. Und das Wetter war, wie es war. Und er erzählte weiter, daß das an einem Sonntag gewesen sein mußte. Denn am späten Nachmittag desselben Tages war er, immer noch am Stadtrand, zu einem Fußballspiel der Zweiten Liga, Compostela : Numancia, gegangen. Es verlangte ihn, wie auch in der Folge immer wieder, mittendrin zu sein, gemäß einem Ausdruck seines Bruders für den Dorfidioten: der sei überall »sofort mittendrin«.
    In Spanien hatten die Spiele der Zweiten Liga fast ebenso großen Zulauf wie die der Ersten, und so saß er dann tatsächlich mittendrin. Er, der Weithergereiste, schrie und pfiff wie die anderen, sprang auf bei einem Tor – allerdings, im Unterschied zu den anderen, bei dem und bei denen der Gastmannschaft –, schüttelte gemeinschaftlich den Kopf über die hirnrissigen Elfmeterentscheidungen des Schiedsrichters, und fühlte am Ende mit den einheimischen Zuschauern (es gab fast nur die), die mit Regenschirmen, Stöcken und Krücken – auffällig viele, ihn an seinen Balkan gemahnend – auf das Refereeteam losgehen wollten oder von den Tribünen herab auf den Plastikbaldachin lostrommelten, durch den die Spieler in die Kabinen verschwanden. Und trotzdem, so mittendrin wie nur möglich, wußte er sich, und das hatte nichts zu tun damit, daß er weder aus der einen Stadt noch aus der anderen kam, ausgegrenzt. Mochte er mit den Unbekannten rundherum noch so viele komplizenhafte Zuschauerblicke austauschen: Er blieb allein. Und das lag an ihm. Einmal, so kam ihm vor, hatte ihm das Fürsichbleiben in der Menge doch etwas bedeutet. Es hatte ihn oft zusätzlich vergnügt. Aber jetzt, im Lauf des Spiels, mehr und mehr, beschwerte es ihn. Es bedrückte ihn. Und dazu kam mit der Zeit vor allem das Gefühl einer Schuld, einer unbestimmten, einer insofern unheilbaren. Indem er war, wie er war, und wo er war, beging er, ohne auch nur einen Finger zu rühren, gemeinsam mit seinen Nebenleuten über einen Ausrutscher lachend, etwas Nichtwiedergutzumachendes. Das Flutlicht flammte auf: umso alleiniger wurde man. In den Stadtrand-Hochhäusern hinter dem Stadion die ersten Lichter: eine gelbe Karte, dann noch eine. Und was für ein kaltes Gelb. Recht geschieht mir. Schuldbewußtsein schon bei dem Gedanken, daß man am nächsten Tag nicht zur Arbeit müßte wie die Ortsansässigen. – Weggehen vom Stadion, allein, im Dunkel. Wie schnell hatte sich die Menge verlaufen. Allmähliches Leichterwerden. Und das Ergebnis Compostela : Numancia? Dreimal dürft

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