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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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zurannte und auf ihn einhieb, kraftlos zwar, aber mit einer Kraftlosigkeit, die, indem sie Brust und Bauch des anderen wie eigens verfehlte, die Schläge hautnah vor dem Ziel abbrechen ließ und, wenn ein Schlag doch einmal traf, eher ein Anklammern, ein unbeholfenes, war, was als eine Kraft für sich wirkte.
    Und er wußte das mit dem Erscheinen der Menschen auch nach dem Angeranntwerden und nach dem, was ihm der Nachzügler der Idioten am Rand der Ausfallstraße dabei in das Gesicht schrie: »Mach, daß Gott mich endlich in Ruhe läßt. Mach, daß Er mir nicht mehr so weh tut Tag und Nacht. Mach, daß Er nicht mehr so dauernd um mich herum ist und daß Er nichts mehr von mir will und daß Er auch nichts mehr von mir wissen will und daß jemand Anderer von mir wissen will, jemand Anderer als dieser Herr Gott! Gott, mein Gott, wann wirst Du mich verlassen? Fahr endlich aus aus mir!« Seltsame Sehnsucht, die den so Angeschrienen dabei gepackt hatte, Sehnsucht nach den Idioten in seiner balkanischen Enklave, wie sie dort an allen Kreuzungen standen, durchweg mit abgewandten Gesichtern.
    Nicht und nicht aber wußte der Erzähler dann in der Nacht auf der Morawa, was er uns eigentlich mit dieser Episode über sie hinaus hatte erzählen wollen. Er stockte mittendrin und brach ab. Wieder einmal hatte er die richtigen Worte nicht gefunden, das funkensprühende Detail, das überspringende Bild, den einleuchtenden Vergleich. Und doch hatte es ihn gedrängt, von sich und den Idioten dort am Stadtrandkreisel zu reden, von ihren Augen im Vergleich zu denen der Fahrzeuglenker, von ihren Stimmen im Vergleich etwa zu denen, womit da und dort die Hunde gerufen wurden, von ihren Bewegungen – ihrem Armeschwingen, ihrem Beineheben, ihrem Köpfewackeln – verglichen mit … Fehlte ihm für solch entscheidendes Erzählen inzwischen wieder die Gefahr? Brauchte unser Gastgeber eine neue Gefahr? Friedlich blieb rund um das Boot die Nacht. Die Morawafrösche quakten. Die Auenbäume rauschten. Die ferne Autobahn rauschte. Die Satelliten blinkten. Die Sterne blickten herab.
    Lange schwieg der Bootsherr und grübelte, bis er erkannte, daß die Gefahr, die ihn weiterbrächte, dieselbe war, die sein Erzählen gerade bedroht hatte. Es war eine innere Gefahr, und indem er sich derer bewußt bliebe als einer, seiner, beständigen Bedrohung, bekäme er, vielleicht, einen umso kräftigeren Antrieb, einen umso herzhafteren Schubs zur Fortsetzung. Und was war diese innere Gefahr? Es war, so seine dann laut vor uns anderen ausgesprochene Erkenntnis, die schon erwähnte, die ihm seit jeher von Zeit zu Zeit zustoßende Entrücktheit. Und was war die Gefahr an ihr? Zweifach war diese: Erst einmal, daß er die Entrückungen inzwischen fast – allerdings eben, zum Glück, nur fast – von sich aus abrufen konnte. Die weit größere, die eigentliche Gefahr aber bestand darin, daß in derartigen Entrückungszuständen die Welt sich einerseits, wie sonst auch nicht annähernd, als ganze, als eine Ganzheit zeigte, daß aber andererseits zu ihr, von ihr, über sie nichts mehr zu sagen war. Diese ganze Welt, selbst wenn sie, wie dort an den Ausfahrtskreiseln, in einem zu dröhnte, toste und heulte, schwieg und konnte nur noch groß angeschwiegen werden. »Es« zeigte sich dann, stumm, und damit hatte es sich. Nicht nur bedurfte es keiner Worte. Diese waren nicht mehr am Platz, kein einziges, nicht einmal in Form eines Ausrufs, eines Oh!, eines Ah! eines He!
    »Die weitaus größte Gefahr freilich in den Zuständen meiner Entrücktheit« – sinnierte unser nächtlicher Gastgeber weiter –: »In Gestalt eines Ausschnitts, einer Straße, eines Hauses, einer Plakatwand, eines Menschen erscheint mir, über die ganze Welt hinaus, hinter oder jenseits von ihr, das Weltganze im Sinn von etwas Ganzgebliebenem. Wider mein, wie sagt man, besseres Wissen erscheint mir eine heile Welt, und diese heile Welt drängt sich mir auf als die höhere, als die gültige Wirklichkeit. Die Autos fahren, die Schlote rauchen, die Gebüsche schwanken, die Gräser zittern, die Sägen schrillen, die Kinder weinen, die Blinden tapsen: Es ist recht so. Es ist in Ordnung. Fehlte nur, daß mir in der Entrückung die Welt zur besten aller möglichen Welten würde. Fehlte nur, daß auch ein Krieg in diesen Stand der Dinge paßte. Ja, es kommt dabei zu einem Stand, einem Stillstand, einem Stehenbleiben, einem wie endgültigen, für ein und allemal. Und dieser Stillstand, monumenthaft,

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