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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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einer Seite, und noch einer, und dazu ein anschwellendes Unmuts-, dann Wutschnauben, dann die Faust auf den Tisch geschlagen. Und dann wieder ein Umspringbild: Verstummen, Federzücken – und Blatt für Blatt versehen mit etwas, das in Schwung und Kürze einem Signieren glich. Aufblicken hernach in den Raum herrscherlich. Stilles Memorieren des Textes. Sichvorbereiten auf die Thronantrittsrede: den Zeigefinger auf die Nasenwurzel, dann den Ringfinger; das Kinn auf die eine, dann die andere Hand gestützt; die beiden Handflächen nach oben, als das Für und Wider wägende Schalen; die Arme ausgebreitet. Sowie er jedoch seines einen Zuschauers innewurde: augenblicklich Schluß damit, mit der Faust auf den Tisch geschlagen, die Manuskripte weggepackt in die Aktentasche und hinaus aus dem Saal. In einer anderen Zeit hätte er den Frevler da töten lassen. »Ihr werdet euern König nie mehr wiedersehen!«
    Der Erzähler mied die Städte nicht, bewegte sich dort aber weniger in den Zentren als nah den Ausfahrtstraßen. Es war etwas Neues, daß dort mehr und mehr Bänke standen, oft bis zu den Kreiseln, die in der Regel die Stadtgrenzen markierten, und auch um sie herum. Er saß da oft, lesend, aufblickend, weiterlesend. Eines Tages, an einem seiner weitgezogenen Mäanderbögen, vernarrte er sich so in eine Gruppe der an jenen Orten inzwischen verläßlich anzutreffenden Idioten. Er fand für sie kein anderes Wort, und außerdem hing er an dem Wort, das ein Kindheitswort geblieben war, wie auch »Zigeuner«, »Keuschler«, »Wegmacher«, »Bergler«, »Huf- und Wagenschmied«. Die Idioten waren auf ihrem täglichen Ausgang, in der Obhut von Betreuern, die sich, wenn überhaupt, unterschieden durch einen gewissen, wenn auch nicht durchgehaltenen Ernst. Sie führten die Schar nicht eigens, ließen einige vorangehen, blieben eher in der Mitte. Die Idioten schien es wie ihn an die Peripherien und zu den Fernstraßen zu ziehen. Nur blieben sie auf den Bänken an der sternförmigen Stadtausfahrt jeweils kaum für einen Augenblick: gleich wieder aufgesprungen und in ihrer Sprung- und Knieknickprozession rund um den Kreisel weitergezogen.
    Und an dem fraglichen Tag, statt es wie sonst bei dem Schauen und Nachschauen zu belassen, schloß er das Buch und ging ihnen auf ihrem Rundgang hinterher. Er blieb stehen, wo sie stehenblieben, gaffte an, was sie angafften. Und es lag ihm dabei nicht daran, ungesehen zu bleiben. Er wollte sogar, daß sie sich in seinem Blick wüßten. Sie sollten sich von seinem Hinterhergehen bestätigt fühlen. Dieses, wie auch sein Zuschauen, sollte ihnen bedeuten, daß sie etwas zu bieten hatten. Schon daß er ein Buch in der Hand hielt, den Finger drin, bewies mehr als bloß seinen guten Willen. Sie waren die Startruppe, und in ihm hatten sie ihren Fan gefunden, einen einzelnen zwar nur, aber der zählte.
    Vor einer Riesenreklame am Kreisel, wo sämtliche aktuellen Filme in der Stadt plakatiert waren, stoppten sie und spielten stumm ausführlich die Vorgänge und Geschichten, die die Gesichter und Körperstellungen auf den Plakaten ihnen eingaben. Bildete er sich dabei nicht bloß ein, daß seine Art Anteilnehmen sie so in Schwung brachte? Vielleicht hatten sie ihn gar nicht bemerkt. Und das Betreuerpaar übersah ihn als einen der üblichen Maulaffenfeilhalter, an die es von den anderen Rundgängen mit dem Häuflein längst gewohnt war. Und trotzdem war er, mit ihnen im Auge, überzeugt, für sie, in ihrem Namen, tätig zu sein. Er hatte das, in einem höheren Interesse, zu tun. Nichts Besseres war für ihn zu tun, als mit all seinen Sinnen auf der Spur dieser Idioten zu bleiben, und nicht bloß für den Augenblick. Keinen Santiagopilgern oder sonstwem hatte er hinterherzukundschaften, sondern den Armen im Geiste da.
    Wie kam es, daß, auf offener Straße zumindest, ihm fast nur noch an den Gestörten und Verwirrten die Menschen, die und die, erschienen? Bloß sein Inneres, sein Kopf oder was, gaukelte ihm das vor? Nein, in diesem einen Fall zumindest, war sein Kopf, oder sein Bewußtsein, oder sein Gefühl oder was, einmal die Welt. Das wußte er – bis zu dem Moment zumindest, da einer aus der Truppe, der Nachzügler, der einzige, der an den Darbietungen der anderen keinmal teilgenommen hatte, höchstens, mit hängenden Armen, inständig wimmernd, als starr Stehengebliebener von einem Betreuer abgeholt worden war – da der Nachzügler plötzlich kehrtmachte, den Verfolger, ja, erkannte, auf ihn

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