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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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blicke er nicht zu Boden, vielmehr auf etwas weit weg, auf einen fernstmöglichen Horizont. Daß er so schnüffelte, mit sich blähenden Nüstern, als sei zugleich etwas zu riechen, oder als stinke ihm etwas, aus dem längst unbenützbaren Klosetthäuschen, neben der Station, türlos, nur noch mit den Umrissen der Schüssel auf dem mit Geröll verstopften Abflußloch? Daß er – der Zug jetzt auch sichtbar – in seinem Äugen und Wittern anhob, mit einem Finger etwas in die Luft zu zeichnen, oder war das ein Schreiben?, wie taub für das Angeschrilltwerden durch die Lokomotive, und dann im Abteil, weiter barfuß, die Schuhe neben sich, auf der Stelle weiterkritzelte oder -strichelte, an der regenbedunsteten Scheibe jetzt, indem nämlich der Zug samt seinen Passagieren, wie es sich zu einer in meinem Galizien spielenden Episode gehörte, aus dem Regen kam.
    Ich setzte mich ihm schräg gegenüber. Aber selbst wäre ich direkt vor ihm gesessen, hätte er keine Augen für mich gehabt, das wußte ich mittlerweile. Daß mein Autor durchgedreht war, dafür sprach des weiteren das Wirrwarr seines Gestrichels auf dem diesigen Glas. Es blieb, beim besten Willen, unentzifferbar. Und nicht nur wegen seiner Bloßfüßigkeit und der schmutzigen Fingernägel war dann mein Eindruck, dieser Mensch da sei nicht bloß unzugänglich, sondern darüber hinaus einer von jenen Unberührbaren geworden, einer aus der untersten Kaste der Völker weit weg in Indien (wo im übrigen nach seinem erklärtermaßen letzten Buch, vor vielen Jahren schon, öffentliche Stimmen ihm den Rest seiner Zukunft vorausgesagt hatten). Und darüber hinaus, wie zu meiner Bestätigung, steckte er sich jetzt auch noch, unbekümmert um gleichwelche andere Gegenwart, eine Taubenfeder ins Haar, eine am Kiel blutverkrustete, und fing an, laut mit sich selber zu reden, pausenlos, auf der ganzen Fahrt bis La Coruña. Unter anderem erinnere ich mich an etwa Folgendes: »Jeder ist, wie er ist. Und alle die Schuhbänder, die nicht aufgehen. O Gerumpel der Morgengedanken. Das Singen meiner Mutter hat verhindert, daß ich Sänger wurde. Ich störe, aber ich möchte nicht stören. Den verlegenen Geber liebt Gott noch mehr als den fröhlichen, und den aufgeregten Geber liebt er am meisten. Wie man herumirrt im Universum. Ich liebe zu wenig. Es ist keine Schande, zu atmen. Grün war schon lang nicht mehr. Vor lauter Schauen sehe ich nichts mehr. Eigentlich sollte man öfter sterben. Niemand beherrscht die Welt. Die Sorge, sie ist nicht episch. Wenigstens bin ich allein. Es ist entsetzlich, wie man sich aus den Augen verliert. Alles ist Irrtum. Wörter nehmen, nicht Farben! Nichts ist gesund! Kauf nichts! All die Zeit! Und morgen geht's weiter …«
    Hier warf der Bootsmann ein, daß er seinen galizischen Freund sehr wohl erkannt habe. Nur sei es für diese Periode der Geschichte beschlossen gewesen, er sollte einzig mit Unbekannten zu tun haben. »So war es beschlossen, so war es gedacht.« Und so ließ er den anderen nicht an sich heran, spielte vor ihm den Abwesenden, den Verwirrten, den Unzugänglichen. Er bildete sich sogar ein, für sein Gegenüber, und nicht bloß für ihn da, unsichtbar zu sein. Wenn er wollte, so sein Gedanke, so würde er zwar vielleicht gesehen, jedoch zugleich als ein bloßer Tagtraum betrachtet: Er hatte sich bloß zu konzentrieren, und er würde Luft für die Umwelt, so wie diese für ihn. Zu übersehen und sich übersehen zu lassen, laut seiner Einbildung, das war im übrigen seit jeher seine Art Macht gewesen. Und jetzt hätte er demnach enttäuscht sein müssen, bei allem Vorspiegeln einer Luftgestalt von unsereinem trotzdem erkannt worden zu sein als er höchstpersönlich, in Fleisch und in Blut? Nicht im geringsten: Er forderte den Zwischenberichterstatter nach seinem Einwurf auf, doch bitte fortzufahren. »Wie ging es im Zug weiter mit mir? Und danach? Bist du mir hoffentlich in La Coruña gefolgt? Was hast du von mir auf meinem Weg durch die Stadt zu berichten? Was habe ich dort getan? Wie war ich?« Ja, er war begierig, Begebenheiten mit sich selber von jemand anderem vorgetragen zu kriegen, so wie er schon in der Kindheit sich nicht hatte satt hören können, sooft die Mutter vor ihm wiedergab, was er einmal, da, dort, gesagt oder getan hätte. »Und was habe ich noch gesagt, Mutter? Und wo bin ich dann hingegangen? Und wo habe ich mich beim nächsten Mal versteckt? Und wen habe ich noch blutig geschlagen? Und wie war ich bei meinem

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