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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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ihr raten. Und übernachtet wo? In einem Stadtrandhotel, der einzige Gast an dem Sonntagabend dort, »für neunundvierzig Euro, plus Ortstaxe«.
    An dieser Stelle übernahm einer von uns andern auf dem Boot, für eine kleine Zeitlang, das Erzählen. Wir waren schon so an die eine Stimme, die unseres Gastgebers, gewöhnt und auch an die Richtung, aus der sie im Halbdunkel des Bootssalons kam, daß wir unwillkürlich herumfuhren, als hinten von einem der Tischchen, während einer ziemlich langen Atempause des Hauptredners, plötzlich eine zweite Stimme sich hören ließ, im Timbre zudem grundverschieden von der ersten. Doch da dieser der Tonfall und der Rhythmus angeglichen waren, empfanden wir Sprecher- wie Perspektivenwechsel schon nach den ersten nächtlichen Sätzen selbstverständlich. Die Nacht, mitsamt der Morawa und ihren Ufern, das war sozusagen die dritte Stimme, vor deren Hintergrund die beiden Stimmen zwanglos ineinander übergingen.
    Der da zwischendurch das Wort führte, war einer, dem der frühere Autor auf einer der folgenden Etappen seines Unterwegsseins zufällig über den Weg gelaufen war. »Ich habe dich gesehen, ohne daß du mich bemerkt hast. Und ebenso habe ich dich dann für eine Strecke, die zufällig auch die meine war, begleitet, nicht eigens heimlich, eher offen, und trotzdem von dir ungesehen, bis unsere Wege sich zuletzt getrennt haben.« Jener Zwischenerzähler gewahrte seinen, unseren Freund am Morgen des auf das Fußballspiel folgenden Tages, oder eines anderen Tages, an einer Zugstation zwischen Santiago de Compostela und dem Atlantik, freilich nicht dem von Portugal, der angeblich, westwärts, eins seiner Ziele sein sollte, das westlichste auf der europäischen Rundreise, sondern dem Atlantik im Norden, dem von Galizien, (Und nicht zum ersten Mal fiel da statt »Rundreise« das Wort »Zickzackweg«.) Die Station lag an der Strecke Santiago–La Coruña, und am Tag hielten da nur zwei Züge, der eine in Richtung Meer, der andere ins Landesinnere. Der Bahnhof, weitab vom galizischen Dorf, dessen Namen er trug, war samt Schalter und Warteraum seit langem geschlossen, ohne Personal, Fenster und Türen vermauert, eine bloße Haltestelle; zugänglich allein die Rampe. »Dort bist du gesessen in der Sonne, mit deinem Koffer, allein, auf dem bloßen Boden – von einer Bank keine Rede –, an die galizische Glitzergranitwand gelehnt. Ich habe dich nicht sofort erkannt, so fremd kam dieser Mann dort mir vor, vielleicht auch, weil er sich einzig im Profil blicken ließ und auf mein Dazutreten, obwohl ich doch mit dem Auto vom Dorf gebracht worden war, mit keinem Wimpernzucken reagierte.« Dann aber: das war doch er? Ja, er war es. »Und ein Anruf entfuhr mir. Und auch darauf keine Reaktion.« Da, er konnte nicht sagen warum, ließ es der andere bleiben, »bei aller Freude, dir so märchenhaft zu begegnen«. Er beschränkte sich im weiteren, nur noch aus dem Abstand zeitweilig zu dem seltsamen Reisegefährten hinzuschauen: so unnahbar erschien der – und hier ahmte der Gast die Erzählweise seines Gastgebers nach –, »nein, unzugänglich«.
    Es war noch Zeit bis zur Ankunft des Zuges, oder dieser verspätete sich, und so fing der Ex-Autor an, auf der Rampe auf und ab zu wandern. Vor dem Kehrtmachen hielt er jeweils inne. Dabei stieß er regelmäßig einen tiefen Seufzer aus, jedesmal einen womöglich noch tieferen, länger ausgehaltenen, bis zuletzt dann einer in ein Summen überging, und dieses in ein Lachen, und dieses in einen wiederholten Schrei. Stimmte es also, was die ganzen europäischen Zeitungen zuerst prophezeit und in der Folge berichtet hatten: daß der alte Freund auf dem Weg war, endgültig verrückt zu werden? Dafür sprach, daß er sich jetzt auch noch die Schuhe auszog und barfuß hinab auf den spitzen Gleisschotter sprang. Daß er dort in die Knie ging und in den Hohlraum unter der Rampe starrte, lange, lange, wo doch nichts zu sehen war außer vielleicht ein leeres Hornissennest, ein ebensolcher Zementsack, ein angerosteter Uniformknopf, ein Fetzen, ob aus einem Hemd, einem Buch oder einem Pornoheft! Daß er, selbst als der Zug, noch unsichtbar, aus der Ferne zu hören war als ein Zirpen oben in den Stromdrähten, zwischen den Gleisen stehenblieb und unverwandt die auf dieser meiner Strecke noch hölzernen Schwellen fixierte, die »Augen« in dem schwärzlichen Holz und die Öl- und sonstigen Tropfen darin, sich mit der Hand dabei die eigenen Augen beschirmend, so als

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