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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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paßte, daß er in eine mir vertraute Spielhalle verschwand. Ich wartete ab, ob der entsprechende Jemand nachkäme – niemand –, und trat ebenfalls ein; es war inzwischen längst Nacht. Da stand er, aber nicht wie gedacht allein an einem Automaten, sondern in einer Art Rudel mit anderen, beim Pfeilwurfspiel, na, ihr kennt das ja, eine Zielscheibe wie die auf dem Boot da, nur mit elektronischem Zählwerk, undsoweiter. Für die Mitspieler, die jeden Abend da waren, war er ein vollkommen Unbekannter. Aber er schien, kaum mit ihnen im Spiel, schon ganz dazuzugehören. Er traf und traf, und bei jedem seiner Würfe leuchteten staunenmachende Zahlen auf. Der jeweils nach ihm werfen sollte, zog ihm, wie das keinem sonst geschah, die Pfeile aus der Scheibe und überreichte sie ihm. Später in der Nacht freilich – ich hatte längst weggeschaut – verlor er den Rhythmus, den Moment. Nicht einmal die Scheibe traf er schließlich mehr, oder wenn, dann blieben die Pfeile nicht stecken, und niemand, der sie ihm vom Boden aufklaubte. Die neuen Kumpane hatten ihn vergessen, ließen ihn bloß noch aus Gastfreundlichkeit mitspielen; er existierte für sie nicht mehr. Und zeigte mein Autor – und dem schaute ich weiter zu, auch wenn der Mensch da nur irgendein entlarvter Staubmantelheld war –, nun sich unbeobachtet glaubend, sein wahres Gesicht, eines, gerade im Halbdunkel der Spielhöhle sah ich das klar, das, nach jedem Fehlwurf mehr, verzerrt erschien von Ungeduld, Ungeduld mit sich selber, mit der Welt, mit dem Raum, mit der Zeit, mit der Nacht, einer Ungeduld auf der Schwelle zum Haß, einem so unbestimmten wie universalen? Sein wahres Gesicht? Sein wahres Ich? Sein anderes? Sein drittes? Sein hundertstes? Oder war ich selber es, der mich an meinem eingebildeten Autor da entdeckte, mich, den Dörfler aus dem granitenen Galizien, mit meiner so gar nicht granitwürdigen, so undörflerischen impacienca Heim zu den Frauen, gleichwelchen! Und weißt du, wißt ihr, wie er heißt, der Spielsalon dort in La Coruña? ›Santa Paciencia.‹ Und warum? Weil er in der Calle Santa Paciencia liegt. Eine sehr kurze Gasse ist das, kann ich euch sagen, meine Freunde. Heilige Geduld. Eine Heilige hat es also einmal gegeben mit dem Namen Geduld. Wann wohl ihr Fest ist?«
    Der Galizier in dem nächtlichen Bootssalon verstummte. Oder machte er nur eine Pause, in der Hoffnung, daß einer von uns anderen ihn nach seinen Frauengeschichten fragte? Nichts als ein allgemeines Schweigen folgte. Zwar erwarteten wir nun endlich eine Frauen-Geschichte, aber nicht von ihm. Sogar das Froschknarren verebbte, zum Zeichen, es konnte, in diesem Sinne, losgehen, oder überhaupt neu angesetzt werden. Zu hören war eine Zeitlang allein die Morawa. Sie floß auf einmal schneller dahin, als sei das Schmelzwasser vom Vortag, aus den südlichen Gebirgen, mit einem Schwall, aus einer geöffneten Schleusenkammer, auf der Höhe von Porodin und der Morawischen Nacht angekommen. Eine Art Flut klatschte gegen die Bootswand, und tief unten im Flußbett röhrte es. Umso stiller in der Höhe der Nachthimmel, mit den letzten, sich entfernenden Wintersternbildern im Westen, still selbst die eine Sternschnuppe, die den Orion und die Plejaden kreuzte, von unten nach oben, was an Streichhölzer in Wildwestfilmen denken ließ, angerissen an Wänden oder an Schuhsohlen.
    Ein Seufzen dann aus dem halbdunklen Salon, wie es unverkennbar nur von einem kommen konnte. Nur unser Gastgeber stieß dann und wann solche Seufzer aus. Am Anfang der Bekanntschaft hatte noch ein jeder von uns gefragt, was ihm denn fehle. Inzwischen aber war klar, daß das Geseufze keinerlei Hintersinn hatte. Es gehörte einfach zu ihm, war vielleicht sein Dörfler- oder eher Familienerbe. Schon sein Großvater hatte es zu Gehör gebracht in Haus, Hof und auf den Fluren, schon sein Urgroßvater. Im Grund war es weniger ein Seufzen als ein Schnaufen, aus dem zeitweise ein Ächzen wurde, das freilich, wie gesagt, nichts bedeuten sollte. Es hatte in der Regel auch keine Folge. Nur ausnahmsweise kündigte es etwas an: daß er gleich seine Stimme erheben würde. Und das war in jener Nacht, und insbesondere in jenen Momenten dann auch der Fall, und genau das, was wir anderen erwarteten. Von ihm wollten wir die Frauengeschichte hören. Von ihm, von dem wir noch nie eine gehört hatten.
    Wie üblich aber zögerte er die Geschichte, überhaupt das Mundaufmachen, hinaus. Bevor er sich schließlich zurechtsetzte, ging er

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