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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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folgenden Schlafwandeln?«
    »Ich, der andere«, so setzte der gehorsam seine Berichterstattung fort, »bin ihm bei der Ankunft am Zielort nur noch kurz auf den Fersen geblieben; schließlich wartete die Arbeit auf mich. Doch in der Mittagspause begegnete mir unser Fahrensmann zufällig wieder, und nach Büroschluß dann noch einmal. Oder war für das Nocheinmalgesehenwerden gesorgt gewesen? So oder so: zu Mittag gewahrte ich ihn auf offener Straße in einem Leichenzug. Er ging in einer langen Reihe von Einheimischen hinter dem Sargwagen her, ganz einer von ihnen. Er hatte sich, wenn »er es überhaupt war – ich bezweifelte das zuerst –, umgekleidet: dunkler Anzug, weißes Hemd mit Krawatte, Hut. Doch, er war es. Ich wurde mir gewiß, als er sich, wie die anderen schreitend, stockend an einer Ampel oder wo, weiterschreitend, einmal umdrehte, und danach wieder und wieder. Nicht bloß an seinen Gesichtszügen erkannte ich ihn, den dabei wie selten Frischrasierten – sicherer noch machte mich sein Kopfwenden im Gehen, seine ihn, in meiner Erinnerung, am stärksten bezeichnende Bewegung. Er blickte, seit ich mit ihm vertraut geworden war, auf seinen Wegen in regelmäßigen Abständen solcherart über die Schulter, weniger vielleicht, weil er hinter sich etwas erwartete, vielmehr, das war mein Eindruck, indem er derart sein Sehen, sein Raumsehen zu schärfen gedachte, oder warum auch immer. Falls er aber auch dieses Mal, als einer aus der Trauergemeinde, darauf aus war, sich zu orientieren und einen klareren Blick zu bekommen, so hatte sein heutiges Kopf-über-die-Schulter kaum einen Sinn: denn seine Augen schimmerten zugleich von Tränen, und nicht der Atlantikwind von La Coruña allein konnte die hervorgerufen haben – wie sonst, sooft er den Kopf wieder nach vorn drehte, wäre an ihm ein Durchgerütteltwerden unübersehbar geworden, das nur von einem Schluchzen herrühren konnte? Ich stand zu weit weg, es zu hören. Aber es war ein Schluchzen so gewaltig, den ganzen Körper erfassend, wie bei niemand sonst in dem Trauerzug, auch nicht, dort schon gar nicht, bei den Angehörigen gleich hinter dem Sarg. Und das ließ mich wieder zweifeln. Ich, als Ortskenner, wußte um den Toten, und selbst, wenn mein Autor, der Ortsfremde, von ihm einmal gehört haben sollte, war da niemand zu betrauern. Nein, er wußte nichts von dem Verstorbenen, geschweige denn hatte er ihn gekannt. Und so war der so haltlos Weinende doch nicht der, für den ich ihn ansah? Ich näherte mich, vergaß die Mittagspause mit einer Meerstadtgeliebten. Und noch einmal nein: jemand, der derartig knarrendes Schuhwerk trug, der in seinem Geschluchze und Gewimmere in einem fort an seinen Manschetten zog, der überhaupt Manschettenknöpfe an sich sehen ließ, und dazu solche wie die da, das konnte unmöglich der mir im Laufe der Zeit lieb und teuer und für mein Seelenleben unverzichtbar gewordene Mensch sein, so nichtssagend, sogar anödend seine körperliche Gegenwart auch immer wieder auf mich wirkte. Und wenn es sich um einen Doppelgänger handelte, einen von den vielen, die, was ihn betraf, angeblich im Umlauf waren, in ganz Europa?«
    »Nach Dienstschluß stieß ich noch einmal auf ihn, und später am Abend noch ein drittes Mal. Das eine Mal war das, bei Einfall der Dämmerung, in der Meermarkthalle. Wieder hatte er die Kleidung gewechselt, stand da bei den Fischen, nicht als Kunde, sondern als Hilfskraft des Standinhabers, wohl bloß für die eine Stunde jetzt, mit Gummischurz und Holzpantoffeln an den nackten Füßen; schabte für die letzten Käufer des Tages den Meerwölfen undsoweiter die Schuppen von den Leibern, riß ihnen die Köpfe ab, nicht gerade fachgerecht, doch weniger ungeschickt, als ich ihn von früher, aus seiner Schreiberzeit, im Gedächtnis hatte; stand dann bei Feierabend im Verein mit andern und spritzte wie sie den Kachelboden der Halle sauber, so fröhlich bei der Sache, wie ich ihm das nicht zugetraut hätte, wobei das Brausen aus den Schläuchen der Kumpane, wenn man hinhörte, eingestimmt schien auf das Hintergrundgeräusch, das ferne Tosen des Ozeans.«
    »Das war aber nun tatsächlich sein Doppelgänger, oder? Wenn es einer war, so konnte man, im Hinblick auf ihn, Erkenntnisse von dem Original gewinnen, für die man vor diesem selber blind geblieben wäre. Der Mann in der Fischhalle, als ein Doppelgänger betrachtet, machte einem Augen für die Art und Weise dessen, um den es sich handelte. Und wie war der? »Wie bin ich

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