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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Handke
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Ausläufermulden des Harzes versteckte kleine Stadt zu. Und wo blieb der Hund von Porodin? Da war er schon, lief mit ihm kurz mit im Wassergraben neben der Straße, in Gestalt einer Bachstelze, die einen ähnlich weißen Brustlatz hatte wie »zuhause« – dachte er unwillkürlich – der Hund.
    Niemand sonst ging auf der Straße. Und wenn die Gegend ein Karst war, so war von dessen sonst so auffälligen und schroffen Formen nichts wahrzunehmen. Es war die deutsche und europäische Allerwelt, womöglich noch um einen Kompaßstrich allerwelthafter oder zeichenloser. Und trotzdem bewegte er sich auf den düsteren Harz und das weiterhin unsichtbare Städtchen zu in stiller Begeisterung. Die Autos, die üblichen, die ihn dann doch überholten und dabei werweißwarum aufheulten und gleichsam mit dem Getriebe knirschten, überhörte er für einmal. Begeisterung, das hieß: Alles erschien gleich groß. Oder: Nichts erschien groß, und nichts erschien klein, und es geschah, so im Gehen stadteinwärts, über Land, ein stetiges Innewerden, ein dabei völlig gedankenloses, von Anblicken, Geräuschen, Gerüchen (auch Gestank, auch Verwesungsgeruch, wie er unvermittelt emporstach von einem toten Rehbock, weit offene Augen, den noch hellen Himmel spiegelnd, immer noch in dem Straßengraben).
    Da war es dann auch, daß sich in ihm das, was er Schritt für Schritt aufnahm, in einen wiederum stillen Monolog verwandelte, kein Selbstgespräch, sondern einer, der sich in einem fort an die ferne »Bezugsperson«, an die ferne Fremde richtete (deren Namen wir doch allmählich gern gewußt hätten). Nicht, daß sie ihn in Gedanken begleitete: Sie blieb fern, und er berichtete ihr aus der Ferne, übermittelte ihr sozusagen telepathisch die Seh- und Hörbilder. Entsprechend begannen die Sätze seines Monologs regelmäßig mit einem »Weißt du …«, »Stell dir vor …«, »Du, ich sage dir …«, »Du kannst es mir glauben …«. Also etwas wie eine imaginierte Reportage? Wenn, dann jedoch nicht live, sondern, wie gesagt, in der Vergangenheitsform: »Weißt du, auf der Stichstraße nach … waren Schlaglöcher, so gar nicht deutsch, genau, wie im Balkan.« – »Stell dir vor, der erste Mensch, der mir im Harz begegnete, war arg alt und schob ein Krückengestell, glaub mir oder nicht, auf Rädern vor sich her, und nicht anders später der zweite, und, viel später, der dritte …« Und nicht zu vergessen die altertümliche, ungebräuchlich gewordene Verwendung des »dir« in den Monologsätzen: »Auf der Straße waren dir Schlaglöcher.« – »… und schob dir ein Krückengestell vor sich her.« – »Und ich sage dir, du: In der ganzen Stadt läutete dir dann nicht eine einzige Abendglocke.«
    Ankunft in der zweiten, in der tiefen Dämmerung, die noch vertieft wurde durch die Lage der Vaterstadt in der Harzwaldbucht, verzweigt die paar Stadtteile in Bachtäler, grabenähnlichen, die durchweg eher niedrigen Häuser da hineingefingert. Ein Kurort schien das zu sein, samt »Kurzentrum«, »Kurhaus«, Kurpensionen, geballten; gesprenkelt von Heilquellen, Thermalbädern, Heilschlammnischen, Alternativtherapien gegen werweißwelche Gebrechen. Und wenn ihm überhaupt, in dem Schein wie vorzeitlicher Laternen, jemand begegnete, so in der Tat fast nur Alte und/oder Gebrechliche, die ihn übersahen und nichts im Sinn zu haben schienen als die Mühsal mit dem eigenen Körper und dem Sichweiterschleppen. Greisenhaft durch die Reihen auch die Tanzenden dann in dem verglasten Kursaal, dessen Scheiben und Wände lückenlos bestückt mit den dort abgestellten Fortbewegungsbehelfen, nicht nur Krücken, sondern auch Wanderschistöcke, andererseits Rollstühle – ein Widerschein von Metall neben Metall, dir die schattigen Gesichter und Körper der Tänzer umgebend, die aber, wie sie so walzten und ringelreihten, dir eine Unbekümmertheit und fast eine Lebensfreude ausstrahlten, zumindest für die Zeit jetzt, da sie tanzten oder von einem Partner dazu aufgehievt wurden. Eine Kurstadt? Davon hatte ihm seine Mutter nichts erzählt. Nur, daß sie damals, in einer kurzen Ruhe auf ihrer Flucht, da seinem Vater begegnet war. Wie? Auch davon kein Wort, so wie sie überhaupt von sich und dem fremden Mann nichts hatte verlauten lassen, außer daß sie einander geliebt hatten. Auch er sie? »Was für eine Frage, du Depp: Versteht sich, daß du ein Kind der Liebe bist.« Und dann kam ihm doch ein Mutterwort zu seinem Erzeuger zurück: Der, ein guter Tänzer, sei mit

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