Die morawische Nacht
was an ihm zu trainieren war, unternahm, was man einmal Gewaltmärsche genannt hatte, nachtlang, bei Regen, willkommenem. Er wurde zum Waldläufer, lief bergauf und bergab, wo es am steilsten war, schwamm in den Waldteichen, die spürbar vor kurzem noch zugefroren gewesen waren, durchkletterte die schrundigen Kalkfelsen des Harzkarstes, schnitt einen um den anderen Haselstock ab, spitzte ihn und schleuderte ihn quer über die Lichtungen als Lanze. In der Stadt selber verdingte er sich bei dem und jenem einzelnen Alten – überall war der »Frühling der Senioren« plakatiert – als Rollstuhlschieber, auch als Kohlenschlepper und Holzhacker (ja, es gab in dem Zonengebiet noch die entsprechenden Öfen). Und vor allem las er, und las, und las: das war ihm die Zentrale der Vorbereitungen auf den Kampf, ein Atemüben ohne eigens ein Üben.
Dabei blieb er in Gedanken beständig an seine Abwesende gewendet, übermittelte ihr, fortwährend in der Vergangenheitsform, was ihm so unterkam in der Gegenwart: Zum Beispiel stand dir da einmal auf einem Waldsteg ein einzelner Wandersmann, ein alter, wie sonst, vertieft in eine Karte, die aber nicht bloß eine andere Gegend darstellte, sondern ein anderes Land, in einem anderen Erdteil. Und in einem der verlassenen Harzkarststeinbrüche traf er dir auf einen ähnlichen Alten, vor einer Staffelei, bei der Ölmalerei, wobei das fast fertige Bild statt des Steinbruchs nah vor Augen eine Küstenlandschaft war, mit dem Meer bis hin zum fernen Horizont.
Gegen Abend des vorletzten Tages war die kleine Stadt unversehens voll mit Jungen, und nur noch sie schienen dann zu zählen, bis tief in die Nacht. Sehr Junge waren das, in der Mehrzahl fast noch Kinder, und sie schleppten Koffer und Rucksäcke, eine nichtendenwollende, schweigende Kolonne bergauf. Sie waren mit dem letzten Zug von, sagen wir, Göttingen gekommen und nicht zu einer Harzwanderung waren sie unterwegs, sondern, am Ende der Ferien, das erkannte er, als er ihnen folgte, zu ihrem Internat. Dieses, von ihm bisher übersehen, obwohl es fast das einzige große Bauwerk der Stadt war, lag in dem Seitengraben eines Seitengrabens der Gebirgsausläufer, abseits nicht nur vom Zentrum und Kurpark – abseits von allem. Nacheinander gingen dann in den hundert und hundert Fenstern die Lichter an, in den unteren Etagen in mehreren auf einmal, in den oberen, wo die Fenster viel kleiner und entsprechend zahlreicher waren, einzeln. Im Hof davor saßen an mehreren Tischen, im Fastdunklen schon, die Empfangspersonen, vor denen die Zöglinge sich reihten in langen Schlangen. Kaum ein Laut zu vernehmen, geschweige denn ein Lachen, oder hatte er, der aus dem Abstand zuschaute, das so beschlossen? Er verharrte so bis tief in der Nacht. Die Silhouetten in den oberen Fensterfluchten blieben nicht immer einzeln, bewegten sich zwischendurch miteinander, und waren erst zuletzt, wenn sich überhaupt noch welche zeigten, wieder für sich, kaum eine Bewegung. Eine Zeitlang war aus dem Internat noch ein Pingpongklacken zu hören gewesen, dazwischen eine Flöte, auch eine Maultrommel, ganz kurz, und dann nur noch das Tack-Tack, gleichmäßig wie ein Metronom – oder war das etwa eines? –, und später gar nichts mehr, die Fenster alle finster, der Nachtwind um das Langhaus mit Schwaden, kalten, vom gemeinsamen Ankunftsnachtmahl, oder roch er das wiederum nur in seiner Einbildung? Und als er nun endlich gehen wollte, als habe er genug gesehen, »als habe man je genug gesehen«, tauchte an seiner Seite noch ein Zögling auf, noch so ein Fastkind, mit vor den Bauch gehängter Tasche und einem prallen Rucksack huckepack, der eine Nachzügler oder einer, der die Ankunft bis zuletzt hinausgeschoben hatte. Er hielt inne vor dem fast dunklen Internat, das leicht erhöht lag. Nein, er stockte, und es entfuhr ihm sogleich ein so leises wie schrilles »Oh nein!« Er war blind für den Erwachsenen neben sich. Keinen Augenblick später machte sich dieser bemerkbar. Und wie? Indem er den Jungen um die Schultern faßte, so, daß der nicht einmal erschrak, ihn weg von der Kinderburg drehte und nach einem »Komm!« mit ihm von dannen ging, wohin und zu wem, sagte er nicht – nur weg, endgültig weg von da! Aber das spielte jetzt doch eindeutig nur in des Erzählers Phantasie? Es war Tatsache, beschied er unseren Zwischenfrager. Phantasie? Und wenn. Und warum »nur«? Die eine zitternde Sekunde, sie hatte sich demnach dort oben in Deutschland doch noch ereignet, so oder
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